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Die Jobcenter müssen bessere Stellen im Angebot haben – zu diesem Schluss kommt die Bertelsmann Stiftung.

© dpa/Martin Schutt

„Jobcenter müssen den Schwerpunkt neu setzen“: Mehr als die Hälfte der Bürgergeldbezieher sucht laut Studie keinen Job

Eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zeigt erstmals, in welchem Umfang sich Bürgergeldempfänger um Arbeit bemühen. Die Studie war noch nicht öffentlich, da hagelte es auch schon Kritik daran.

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Etwa 1,8 Millionen Menschen in Deutschland sind ohne Job und beziehen Bürgergeld, gelten aber grundsätzlich als erwerbsfähig. Eine Befragung des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zeigt nun erstmals, ob und wie intensiv die Betroffenen Jobs suchen.

Demnach gaben 57 Prozent der Befragten an, sie hätten in den zurückliegenden vier Wochen gar nicht nach einer neuen Stelle gesucht – 53 Prozent der Befragten sind Männer und 63 Prozent Frauen. Befragt wurden nur Bürgergeldempfängerinnen- und Empfänger, die seit mindestens einem Jahr Bürgergeld, beziehungsweise das frühere Arbeitslosengeld beziehen.

25,5
Prozent der Befragten geben an, dass sich die eigene finanzielle Situation mit einem neuen Job kaum zum Zustand mit Bürgergeld verbessern würde

Und: Der Großteil der Menschen, die sich aktiv auf Stellensuche befindet, tut dies mit relativ geringem zeitlichen Aufwand, stellt die Bertelsmann Stiftung fest. Gerade einmal knapp ein Viertel wendet pro Woche maximal neun Stunden für die Stellensuche auf. Nur wenige investieren 20 oder mehr Stunden für die Jobsuche – wobei der Anteil der Männer hier mit 7,6 Prozent fast doppelt so hoch liegt, wie jener der Frauen (4 Prozent).

Die Gründe für die Zurückhaltung bei der Jobsuche sind gemäß den Untersuchungsergebnissen vielfältig. Etwa ein Viertel der Betroffenen (25,5 Prozent) gibt an, dass sich die eigene finanzielle Situation mit einem neuen Job kaum verbessern würde.

Negativen Einfluss auf die Arbeitssuche haben laut der Studie Faktoren wie das Geschlecht, Kinder im Haushalt oder psychische oder chronische Erkrankungen. 22 Prozent etwa sagen, sie seien durch die Pflege von Angehörigen oder die Kinderbetreuung gebunden.

Wenn in Paarhaushalten der Mann das höhere Einkommen generiert und Frauen auch bei einer Arbeitsaufnahme weniger verdienen würden als ihr Partner, ist die Motivation, sich einen Job zu suchen, gering.

Tobias Ortmann, Arbeitsmarktexperte Bertelsmann Stiftung

Vor allem Frauen mit kleinen Kindern in Paarhaushalten befanden sich in deutlich geringerem Umfang als Männer auf Jobsuche. „Wenn in Paarhaushalten der Mann das höhere Einkommen generiert und Frauen auch bei einer Arbeitsaufnahme weniger verdienen würden als ihr Partner, ist die Motivation, sich einen Job zu suchen, gering“, sagt Tobias Ortmann, Arbeitsmarktexperte der Bertelsmann Stiftung, dem Tagesspiegel.

Der Eifer, sich um eine Anstellung zu bemühen, ist laut der Studie bei Frauen, die nicht in Deutschland geboren wurden, geringer. „Das kann an unterschiedlichen Faktoren liegen, wie einer Diskriminierung am Arbeitsplatz oder Geschlechterrollenbildern, die in manchen Herkunftsländern besonders stark ausgeprägt sind“, heißt es in der Studie.

Auch die Dauer des Bürgergeldbezugs spielt bei der Frage, wie hoch der Eifer bei der Stellensuche ist, eine Rolle, stellt die Untersuchung fest. Umso länger jemand aus dem Arbeitsverhältnis heraus ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Person in den vier Wochen vor der Studie auf Stellensuche befand. „Umso mehr Monate verstreichen, umso mehr sinkt die eigene Motivation“, wird eine Person in der Studie zitiert, die sich seit zehn Jahren im Leistungsbezug befindet.

Knapp die Hälfte (49 Prozent) der Befragten, die sich aktuell nicht auf Jobsuche befindet, begründet dies laut der Bertelsmann-Studie mit zu wenigen passenden Stellen. Elf Prozent geben an, sich mit „Gelegenheitsarbeiten“ über Wasser zu halten. „Wer lange Leistungen bezieht, verliert oft den Anschluss. Aufgabe der Jobcenter ist, zu unterstützen und passgenaue Jobs oder Qualifizierung anzubieten“, sagt Arbeitsmarktexperte Ortmann.

Diejenigen, die arbeiten wollten, aber nicht könnten, bräuchten mehr Unterstützung. Dazu gehöre eine gute Kinderbetreuung, aber auch Weiterbildungsangebote oder Coachings, um die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, hält die Studie fest. Wer arbeiten könne und Jobangebote ohne triftigen Grund ablehne, solle hingegen „konsequent sanktioniert werden. Außerdem muss Schwarzarbeit unterbunden werden, indem betroffene Personen stärker zeitlich eingebunden werden.“

Ortmann plädiert bei Bürgergeldempfängerinnen- und Empfängern, die aufgrund psychischer oder chronischer Krankheiten nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden könnten, auf einen Wechsel „aus der Grundsicherung in ein besser passendes Unterstützungssystem wie die Sozialhilfe oder die Erwerbsminderungsrente.“

Die repräsentative Befragung von 1006 Leistungsberechtigten zwischen 25 und 50 Jahren zeigt darüber hinaus, dass die besten Chancen bei der Jobsuche Personen mit Berufsschulabschluss haben, gefolgt von jenen mit einem Hochschulabschluss. Weiterbildungsangebote böten die Jobcenter aber vor allem Personen mit Hauptschulabschluss an, seltener seien Weiterbildungsangebote für Frauen, insbesondere mit kleinen Kindern.

„Die Jobcenter müssen den Schwerpunkt neu setzen. Weniger Bürokratie, mehr Vermittlung“, wird der Arbeitsmarktexperte der Bertelsmann Stiftung, Roman Wink, in der Medienmitteilung zitiert.

Scharfe Kritik des Paritätischen Gesamtverbandes

Allerdings dauerte es nicht lange – und die Studie war noch nicht einmal veröffentlicht – da hagelte es Kritik an der Untersuchung und vor allem an der Analyse der Ergebnisse seitens der Bertelsmann Stiftung. Der Paritätische Gesamtverband kritisiert unter anderem, die Untersuchung suggeriere, alle Empfänger des Bürgergeldes seien in die Untersuchung eingebunden, was zu irreführenden Faziten führe.

Die Studie zeigt: Die große Mehrheit, derjenigen, die sich bewerben können, tut dies auch.

Pressemitteilung des Paritätischen Gesamtverbandes

Für den Sozialverband ist entscheidend, dass nur Menschen für die Studie herangezogen wurden, die mindestens seit einem Jahr Bürgergeld beziehen. „Die aktivste Gruppe – jene im ersten Jahr – fehlt komplett. 40 Prozent der Abgänge aus dem Bürgergeld erfolgen aber genau in diesem ersten Jahr“, betont der Sozialverband in einer Pressemitteilung. Die Studie der Bertelsmann Stiftung ignoriere demzufolge einen erheblichen Teil der Leistungsberechtigten, „nach aktuellen Statistiken 20 Prozent.“

Diese Gruppe sei bei der Stellensuche die Aktivste, folglich sei die Zuspitzung, über die Hälfte der Bürgergeldbezieher seien nicht aktiv auf Jobsuche, falsch und irreführend. Der Verband weist auch darauf hin, dass viele Leistungsbezieher aktuell nicht auf Stellensuche seien, da es Hinderungsgründe wie etwa Erkrankungen gebe.

Laut der Studie nannten 41 Prozent der Befragten keine Hinderungsgründe für die Stellensuche. Von diesen wiederum befanden sich – das ist aus der Bertelsmann Studie ersichtlich – 73 Prozent aktiv auf Stellensuche. „Die Studie zeigt: Die große Mehrheit, derjenigen, die sich bewerben können, tut dies auch“, schreibt der Paritätische Gesamtverband in der Pressemitteilung und kommt zu dem Schluss, dass die Studie „keine Aussagen über die Bürgergeldbeziehenden insgesamt“ treffen könne.

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