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Mehr an die frische Luft! Goldglänzend und vor imposanter Kulisse verkündet Angela Merkel gute Vorsätze fürs Jahr 2014.

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Kanzlerworte zum Neuen Jahr: Brühwürfel der Geschichte

So viel ungestörte Aufmerksamkeit wie bei ihrer Neujahrsansprache haben Deutschlands Regenten sonst nie - und sie machen immer weniger daraus.

Die Bundeskanzlerin war dem Anlass gemäß in festliches Silber gekleidet. Ein edel schimmernder Blazer, schimmerndes Halsgeschmeide, hinter ihr war der Reichstag zu sehen, neben ihr die Deutschland- und die Europa-Flagge. Dann grüßte sie, schlug ein erstes Mal die Lider nieder und setzte ihre Zuschauer und Zuhörer über folgendes in Kenntnis: „Vor 50 Jahren wurde der Silvester-Klassiker ,Dinner for One‘ in Hamburg aufgezeichnet.“ So sprach Angela Merkel am Silvesterabend des Jahres 2012 zum Volk.

Die Information muss ihr wichtig gewesen sein, ebenso wie jene, die sie ein Jahr später übermittelte: „Ich selbst nehme mir eigentlich immer vor, mehr an die frische Luft zu kommen – auch das sicher ein Klassiker unter den guten Vorsätzen.“ Da war sie gekleidet in Gold.

So wichtig waren ihr die beiden Sätze, dass sie gleich zu Anfang der vielleicht kostbarsten Minuten des Jahres gesagt werden mussten, die einer bundesdeutschen Regierungschefin zur Verfügung stehen: der via Fernsehen und Rundfunk übertragenen Neujahrsansprache.

Immer redet jemand dazwischen - hier nicht

Ungestört und unwidersprochen kann der jeweilige Amtsinhaber in diesen Minuten reden. Unwidersprochen von Parlamentariern der gegnerischen Parteien, bei Regierungserklärungen zum Beispiel ist das ja anders. Bei Interviews reden Journalisten dazwischen. Bei Wahlkampfauftritten und Parteitagsreden Unzufriedene und Andersmeinende. Bei den Neujahrsansprachen aber gibt es nur sie oder ihn und 80 Millionen potenzielle Zuhörer und niemanden, der dazwischensteht oder Fragen stellt.

Die 80 Millionen sind bei Angela Merkel die „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“. Beim Vorgänger Gerhard Schröder waren sie das auch, ebenso bei Helmut Kohl, der regelmäßig aber auch „Liebe Landsleute“ in seinen Ansprachen sagte. Helmut Schmidt, der seine gesamte Amtszeit über noch zu einem Viertel weniger Bundesrepublikanern sprach, wandte sich an „Meine Damen und Herren“.

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, 2013 wird ein Jahr vieler 50. Jahrestage.“

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, der Jahreswechsel ist traditionell ein Zeitpunkt guter Vorsätze.“

„Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, in wenigen Stunden beginnt das Jahr 2000.“

„Liebe Landsleute, das Jahr 1990 wird uns als eines der glücklichsten in der deutschen Geschichte in Erinnerung bleiben.“

„Meine Damen und Herren, ... Sie erwarten von mir an diesem letzten Abend des Jahres keine erbaulichen Sprüche.“

Einer hat ein Buch aus den Reden gemacht: "Geschichte in Aspik"

Man merkt es angesichts dieser fünf klassischen Eröffnungen der vier letzten Amtsinhaber möglicherweise nicht: Doch Fachleute wie beispielsweise Michael Mertes vermuten in den Neujahrsansprachen der bundesdeutschen Großpolitik – in allen zusammen – „eine Art politisches Sittengemälde der Nachkriegsjahrzehnte“. Mertes hat sie allesamt gelesen und analysiert und ist auch ansonsten ein Fachmann auf dem Gebiet: Er war als Redenschreiber von Helmut Kohl für etliche dieser Ansprachen persönlich zuständig, und er hat Vorträge darüber gehalten.

Man müsse sie nur übereinanderlegen. Vielleicht zusammenheften und ein Buch daraus machen. Ein Mann mit ähnlichen Vorahnungen wie Mertes hat vor eineinhalb Jahrzehnten genau dies getan. Reinhard Kiehl veröffentlichte die von 1949 bis zur Jahrtausendwende gehaltenen Ansprachen in einem Sammelband und stellte nach getaner Arbeit fest, dass es sich bei diesen Texten um einen „Brühwürfel“ der Zeitgeschichte handelte. Das Buch nannte er „Alle Jahre wieder. Geschichte in Aspik“ (es ist vergriffen).

Bonn, der 31. Dezember 1949: Bundespräsident Theodor Heuss sagte im Radio, weil es das Fernsehen noch nicht gab: „Nicht ohne innere Bewegtheit – das glaube man mir – spreche ich in dieser Stunde.“

Rollentausch 1970: Ab jetzt blickt der Kanzler nach vorn - wie es sich gehört

Der Mann vor dem Tor. Gerhard Schröder verkündete dem Volk, dass harte Zeiten kommen werden.
Der Mann vor dem Tor. Gerhard Schröder verkündete dem Volk, dass harte Zeiten kommen werden.

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Heuss, der Bundespräsident. Der Brühwürfel ist ins Wasser gefallen, er löst sich auf, und er macht seine Extrakte für die Nachgeborenen genieß- und wahrnehmbar. Von 1949 an bis 1969 war der Präsident für die Neujahrsansprache zuständig. Um das benachbarte Ritual der alljährlichen Weihnachtsansprache kümmerten sich in diesen beiden Jahrzehnten die Kanzler. Völlig „seltsam“ aus heutiger Sicht, sagt Mertes, das entspräche „so gar nicht dem Bild, das wir uns von der Rollenverteilung zwischen den beiden wichtigsten Leitfiguren der Republik machen“.

Die Rollenverteilung aus Mertes’ Sicht ist die, in der ein Bundespräsident gewissermaßen für die Salbung zuständig ist. Für Weihnachten, für das Fest der Liebe und die Gefühle, die die Menschen in diesen Tagen befallen. Er ist dann verantwortlich für Harmonie und Konsens, fürs Überparteiliche sowieso und fürs Unpolitische obendrein.

Nüchternheit statt Seelsorge

Kanzler hingegen mögen eine handfeste Bilanz des vergangenen Jahres ziehen, vor allem aber sollten sie vorausschauen. Sie haben Bericht zu erstatten über die kommenden Zumutungen und darüber, wie ihre Regierung damit umzugehen gedenkt. Es geht um Nüchternheit statt Seelsorge.

Willy Brandt gibt Mertes recht. Er war der letzte Bundeskanzler, der eine Weihnachtsansprache hielt, und er sagte damals: „Gefühlvolle Deklamationen sind nicht meine Sache. Verantwortliches politisches Handeln zwingt zum nüchternen Denken.“

Helmut Schmidt, fünf Jahre und eine Woche später: „Es war ein schwieriges Jahr. Der Fall des Spions Guillaume hat einen schmerzlichen Regierungswechsel in Bonn ausgelöst. Die terroristischen Kommunisten der Baader-Meinhof- Gruppe haben uns beunruhigt. Welt-Inflation und Welt-Erdölkrise haben in allen Industriestaaten der Erde große wirtschaftliche Schwierigkeiten herbeigeführt.“

Helmut Kohl: „In meinem Zehn- Punkte-Programm zur deutschen Einheit habe ich den Weg aufgezeigt, wie das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Die Zulassung unabhängiger Parteien und freie Wahlen in der DDR sind wichtige Schritte auf diesem Wege.“

Gerhard Schröder: „Wir werden unseren Wohlstand, unsere soziale Sicherheit, unsere guten Schulen, Straßen und Krankenhäuser ... nur erhalten können, wenn wir uns auf unsere Kräfte besinnen und gemeinsam den Mut zu grundlegenden Veränderungen aufbringen. ... Wir werden dabei in jeder Hinsicht ein Mehr an Eigenverantwortung brauchen.“

Angela Merkel: „Besonders wichtig ist mir, dass wir unsere Finanzen der nächsten Generation geordnet übergeben, dass wir die Energiewende zum Erfolg führen, dass wir gute Arbeit und ein gutes Miteinander in unserem Land haben.“

Die Reden destillieren auch deutsche Geschichte

Der Brühwürfel ist voller Eckdaten. Wer kein Geschichtsbuch in die Hand nehmen mag, dem liefert er Stichworte. Den Anlass von Brandts Abschied von der Macht lässt er aufscheinen, die Wiedervereinigung, die Sozialstaatsreformen und europaweite Schuldenkrisen. Dazu kommen ein bisschen Eigenlob und jene zukünftigen Wichtigkeiten. Wer allerdings wissen will, ob diese von der Politik tatsächlich ernst genommen wurden oder nur behauptet waren, der braucht mindestens ein Jahr Geduld.

Aus den Ansprachen lässt sich aber noch etwas anderes ablesen. Die deutsche Politik an sich scheint ihr Wesen zu verändern. Sie verabschiedet sich von sich selbst. Am Anfang hatte sie zu klären, was aus den Bundesdeutschen nach dem Krieg werden sollte. Sie hatte das von ihr gemeinte Volk zu begeistern, zu einen und auch zu spalten. Es ging um gröbste Klötze und dickste Bretter – und das paradoxerweise bei einem eingeengten Handlungsspielraum. Es gab ja noch die Alliierten.

Aus all dem ist im Lauf der Zeit wenig mehr geworden als bloße Mathematik. Seit mit der geglückten Wiedervereinigung der letzte Haken hinter die zu lösenden Nachkriegsaufgaben gesetzt wurde, wird oft nur noch gerechnet.

Das Sozialsystem erscheint als zu teuer? Setzen wir uns also hin, bemühen das Einmaleins, die Bruchrechnung und Verhältnisgleichungen, und hinterher wissen wir, wer warum wie viel weniger Fürsorgegeld bekommt.

Wir wollen einen Klimawandel bremsen? Hinsetzen, rechnen, gewünschte Kohlendioxidreduktion abgleichen mit den vermuteten Investitionskosten. Danach teilen wir mit, wer wie viel davon bezahlen soll.

Früher ging es um Volkserziehung, seit 1990 geht es vor allem um Geld

1986 vertauschte die ARD die Rede von Helmut Kohl - und sendete die aus dem Vorjahr. Kohl glaubte an Absicht.
1986 vertauschte die ARD die Rede von Helmut Kohl - und sendete die aus dem Vorjahr. Kohl glaubte an Absicht.

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Es ist mit dieser Feststellung kein Wort darüber gesagt, ob die Politikziele von heute kleiner sind als früher. Niemand kann sagen, ob beispielsweise ein Klimawandel mit seinen Auswirkungen denen des Ersten oder des Zweiten Weltkriegs näherkommt. Es ist unter Fachleuten umstritten, ab welcher Höhe eine Staatsverschuldung in der Lage ist, ein Land zu erledigen. Ebenso, wie viel weniger „gutes Miteinander in unserem Land“ als derzeit die Bundesrepublik noch kompensieren kann. Das alles können Katastrophenszenarien sein. Was eben nur auffällt: Die infrage kommenden Lösungen haben oft mit Zahlen zu tun. Mit Verwaltungsarbeit und Euro-Beträgen und damit, wer von wem mehr oder weniger bekommt als zuvor.

Wovon war stattdessen früher gleich noch mal die Rede? Noch einmal Heuss 1949: „Der Katalog der deutschen Not und Nöte ist unabsehbar. Wollte ich ihn reihen, so würde es eine Kette grauen Elends sein, und morgen würden die Briefe kommen: Aber mich, uns, unsere Gruppe hast du vergessen? Weißt du nichts davon?“

Heuss tadelte das mürrische Volk: Bierbankreden seien der falsche Weg

Es waren die ersten Aufräum- und Aufbaujahre, und Heuss sprach ganz unverblümt von Not. Er sprach aber auch davon, dass der Staat nicht jedem dabei helfen könne, sie zu lindern. Er wünschte sich stattdessen die Selbstermächtigung der Menschen. Denen, bei denen man diesbezüglich ein bisschen deutlicher werden muss, sagte er: „Das Schimpfen und Höhnen an der Bierbank ist nicht die rechte Begleitmusik. Wollt ihr wieder den Reichstag der 30er Jahre, wo alles so glatt ging? Es war der glatte Weg, der in den Abgrund führte.“

Das war keine Überheblichkeit. Heuss sprach damals zu Menschen – die er trotz allem Leid und allem Monströsen, das sie erlebt und auch angerichtet hatten – für mündig hielt. Er hatte, so lesen sich die Ansprachen, weder Angst vor ihnen noch wollte er geliebt werden. Das Ergebnis war: Er bekam Respekt.

Auch Nachfolger Heinrich Lübke, der als eher unbegabter Redner in die Geschichte einging, sprach solche Sätze. „Selbstzufriedenheit und Sattheit machen sich bei einem Teil unseres Volkes in nicht gerade angenehmer Weise bemerkbar“, sagte er 1959. Ein paar Jahre später nahm er sich die eigene Klasse vor. „Schaden gelitten hat das Ansehen der parlamentarischen Demokratie auch deshalb, weil manche Politiker meinen, sie könnten durch sogenannte Wahlgeschenke den Einfluss ihrer Parteien sichern und stärken.“

Die Gesellschaft hat sich gefunden, heute wird nur noch repariert

Wer weiß, in den Ohren der Menschen von heute klänge all dies womöglich wie eine Anstiftung zum Aufruhr. Einen solchen hat es in der Geschichte der Bundesrepublik ja auch mindestens ein Mal gegeben, 1968 war das, und Bundespräsident Gustav Heinemann ging darauf ein. „Dieser Unruhe verdanken wir – das möchte ich nachdrücklich sagen – viele fruchtbare Anstöße. Dieser selben Jugend aber sage ich, dass sie ihre Ziele verfehlt, wenn sie ihre Eltern, ihre Lehrer oder das sogenannte Establishment wie Feinde behandelt und demütigen will.“

Alles in allem sind viele der Silvesteransprachen des letzten Jahrhunderts klare Ansagen an eine Gesellschaft, die sich erst noch finden musste. Dies ist in der Zwischenzeit ganz offensichtlich geschehen. Was nun noch zu tun bleibt, sind Reparatur- und Ausbesserungsarbeiten und das permanente Reagieren auf die Welt drumherum, die sich ja weiterdreht. Und die Politik kann vielleicht nicht anders, als dabei auf jenes Mittel zurückzugreifen, das eben jene Welt regiert.

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