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Verfassungsgericht rügt Ampel-Wahlgesetz: Karlsruhe hält aktuelle Fünfprozenthürde für zu hart
Der Zweite Senat gibt vor, dass zur nächsten Wahl die Grundmandatsklausel wieder gelten soll. Für CDU und CSU haben die Richter eine besondere Empfehlung.
Stand:
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden – das Wahlgesetz der Ampel-Koalition ist in einem entscheidenden Punkt verfassungswidrig. Es geht dabei um zwei Elemente des deutschen Wahlrechts, die seit Jahrzehnten gelten: die Fünfprozenthürde und die sogenannte Grundmandatsklausel.
Nach der Entscheidung des Zweiten Senats, welche offenbar durch eine Panne schon in der Nacht bekannt geworden ist, ist die Fünfprozenthürde eine zu hohe Sperrklausel, wenn die Grundmandatsklausel fehlt. Sie besagte bisher, dass eine Partei auch in den Bundestag kommen kann, wenn sie die Fünfprozenthürde nicht schafft. Es genügten dann drei gewonnene Direktmandate. Zuletzt hat davon 2021 die Linkspartei profitiert.
Die Richter verlangen nun eine Neuregelung. Bis dahin, so steht es in dem gut 70 Seiten langen Urteil, das dem Tagesspiegel vorliegt, gilt die Maßgabe, „dass bei der Sitzverteilung Parteien, die weniger als 5 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten haben, nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen auf sich vereinigt haben“.
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Mehrere Möglichkeiten
Der Bundestag hat nun mehrere Möglichkeiten. Entweder er führt die Grundmandatsklausel wieder ein. Oder er senkt die Sperrklausel, etwa auf vier oder auch drei Prozent. Oder er schafft eine andere Form der Milderung, welche das Gericht für erforderlich hält. In der Entscheidung heißt es, die Fünfprozenthürde sei sachgerecht und zulässig. Aber in der „geltenden Form“ sei sie mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
Mit Blick auf CDU und CSU wird in der Entscheidung der Weg eröffnet, bei Parteien, die sich für eine Fraktionsgemeinschaft entscheiden, die auch schon vor der Wahl Bestand hatte, und die auf einen direkten Wettbewerb gegeneinander verzichten, eine Sonderregelung bei der Sperrklausel anzuwenden. Will heißen: Beide Parteien zählen als eine.
Den Kern des Ampel-Wahlgesetzes hat das Gericht allerdings nicht angefochten. Die sogenannte Zweitstimmendeckung für die Direktmandate, die eine Partei erringt, hat Bestand. Sie läuft darauf hinaus, dass Überhangmandate und damit auch die seit 2013 bestehenden Ausgleichsmandate vermieden werden. Kommt es zu Überhängen, werden künftig nicht mehr alle Direktmandate einer Partei zugeteilt.
Worum ging es genau? Hier ein Überblick.
Was hatte die Ampelkoalition beschlossen?
Anlass der Ampel-Wahlrechtsreform war das Anwachsen des Bundestags auf zuletzt 736 Mandate (bei einer gesetzlichen Mindestgröße von 598). Um stets die gesetzliche Zahl der Sitze einhalten zu können, beschloss die rot-grün-gelbe Koalition, das seit 1949 geltende Wahlsystem umzukrempeln.
Der Anspruch war, die mit einer Personalwahl verbundene Verhältniswahl, auch personalisierte Verhältniswahl, so weit zu „entpersonalisieren“, dass der Parteienproporz nicht mehr gestört wird. Und damit auch keine Ausgleichsmandate nötig werden, wenn sich Überhangmandate ergeben. Die kommen zustande, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate über die Erststimmen erringt, als sie nach Zweitstimmen Anspruch hat.
Die Ampel führte daher das Erfordernis der Zweitstimmendeckung ein – kommt es zu Überhängen, dann werden nur noch so viele Direktmandate zugeteilt, wie es dem Zweitstimmenergebnis entspricht. Die schwächsten Wahlkreissieger haben das Nachsehen. Das war keine echte Neuerung, als Kappungsmodell war diese Variante seit Jahrzehnten bekannt.
Kern des Ampel-Modells ist, dass Erststimmen keinen Einfluss mehr auf die Zusammensetzung des Bundestags und die Parteistärken dort haben sollen. Von daher postulierten SPD, Grüne und FDP auch, nun eine reine Verhältniswahl geschaffen zu haben. Überhänge sind somit zwar weiterhin der Fall, aber sie spielen bei der Sitzzuteilung keine Rolle mehr. Insgesamt soll es künftig immer 630 Abgeordnete geben.
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Allerdings kollidiert mit dem Anspruch der Ampelkoalition die sogenannte Grundmandatsklausel im alten Wahlrecht. Sie besagte, dass Parteien, die an der Fünfprozenthürde scheitern, dennoch mit ihrem Zweitstimmenergebnis im Bundestag vertreten sein können, wenn sie drei Direktmandate erringen. Das hat die Linken 2021 gerettet, und es war auch für die CSU immer eine Rückversicherung für den Fall, dass ihr Ergebnis in Bayern bundesweit gerechnet nicht zum Einzug reichen würde.
Um einen Systembruch in ihrem Wahlgesetz zu vermeiden, beschloss die Ampel, die Direktmandatsklausel zu streichen. Im Widerspruch dazu aber ließ sie weiterhin zu, dass unabhängige Bewerber, die ein Direktmandat gewinnen, in den Bundestag kommen – und beließen so eine Möglichkeit im Wahlgesetz, via Erststimmen zu Mandaten zu kommen. Ersteres hat der Zweite Senat nun gekippt. Letzteres aber hat er durchgehen lassen.
Wer hat geklagt?
Sowohl die Unionsfraktion als auch die Linken im Bundestag reagierten mit Empörung, als das Gesetz im vorigen Jahr beschlossen wurde. Sie sehen in der Reform einen gezielten Angriff der Parlamentsmehrheit auf die Opposition. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt warf der Ampel sogar „Missbrauch“ des Wahlrechts vor, „um eigene Mehrheiten sicherzustellen“.
Neben den beiden Fraktionen haben auch die bayerische Staatsregierung, die CSU als Partei sowie die Linken ebenfalls als Partei geklagt. Dazu kamen Verfassungsbeschwerden von insgesamt mehr als 4400 Einzelpersonen, unterstützt zum Teil von dem Verein „Mehr Demokratie“.
Wie sind die Klagen begründet?
Die Antragsteller und Beschwerdeführer zielten im Grund alle in die gleiche Richtung: Sie sehen im Ampel-Wahlgesetz einen Verstoß gegen die Artikel 21 und 38 im Grundgesetz. Es geht darum, ob die Chancengleichheit der Parteien und die Wahlrechtsgleichheit noch gewahrt sind.
Die Fünfprozenthürde ist ein Eingriff in die Gleichheit der Wahl (die der Artikel 38 schützt) und in die Chancengleichheit der Parteien (die im Artikel 21 verankert ist). Die Klagebegründung lautete nun, dass mit dem Wegfall der Grundmandatsklausel die Wirkung der Sperrklausel deutlich verschärft wird.
Karlsruhe musste prüfen, ob die Zugangshürde in dieser Höhe – also fünf Prozent – noch zu rechtfertigen ist. Immerhin ist die Zahl der Wähler, die nicht repräsentiert sind, zuletzt auch deutlich gestiegen – in manchen Landtagen schon auf mehr als zehn Prozent.
Andere Klagegründe haben in der mündlichen Verhandlung im April eine geringere Rolle gespielt.
Warum war vor allem die CSU so empört?
Die CSU hat mit ihrem Ergebnis in Bayern stets die Fünfprozenthürde überwunden. In ihren Hochzeiten in der alten Bundesrepublik, zwischen 1957 und 1987, lag sie immer um die zehn Prozent. Danach waren es im Schnitt etwa sieben Prozent.
2021 geriet sie mit 5,17 Prozent der Zweitstimmen erstmals in die Gefahrenzone. Aber dank der Direktmandatsklausel bestand kein Grund zur Panik. Mit deren Wegfall aber gibt es diesen Rettungsanker nicht mehr. Selbst wenn die CSU 45 Direktmandate hätte, wie das 2021 der Fall war, sie wäre nicht im Bundestag, fiele sie unter fünf Prozent.
Damit aber schafft das Ampel-Wahlgesetz ein Repräsentationsproblem. Denn ein gutes Drittel der bayerischen Wähler wäre damit nicht vertreten. Und da die CSU-Direktmandate nicht zugeteilt würden, es aber keine Ersatzvergabe an die Zweitbesten in diesen Wahlkreisen gibt, wäre Bayern auch insgesamt geringer vertreten. Auf den informellen Vorschlag aus der Ampel, die CSU könne ja mit der CDU eine Listenverbindung oder Zählgemeinschaft eingehen, dann wäre das Problem gelöst, ging die Union nicht ein. Nun ist er vom Gericht als mögliche Lösung in Erwägung gebracht worden.
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