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Karlsruhe hat zum Wahlrecht entschieden: Das Urteil sollte dem Bundestag eine Lehre sein
Für das Parlament ist die Entscheidung hart, denn die Richter spielen Ersatzgesetzgeber. Aber das muss nun Ansporn sein für eine gute, beständige Wahlrechtsreform.

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Dass der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zu überraschenden Entscheidungen fähig ist, hat er im vorigen Jahr beim Urteil zur Schuldenbremse gezeigt. Was im November aus Karlsruhe Richtung Berlin geschickt wurde, machte klar und deutlich, was die Verfassung zulässt und was nicht.
Das Urteil schüttelte die Ampelkoalition ordentlich durch, sie stand kurz davor zu zerbrechen. Kaum jemand hatte damals geglaubt, dass die Richter so weit gehen würden. Dabei war die Entscheidung recht simpel und folgerichtig.
Was nun am Dienstag zur Wahlrechtsreform der Ampelkoalition entschieden wurde, ist ähnlich zu bewerten. Nur dass es nicht allein die Regierungsparteien sind, die durchgeschüttelt wurden. Oder die klagenden Oppositionsparteien Union und Linke. Nein, dieses Urteil darf dem gesamten Bundestag als Institution eine Lehre sein.
Ein unmissverständlicher Aufruf an das Parlament
Die Entscheidung, mit sieben zu eins Stimmen recht eindeutig gefällt, ist ein unmissverständlicher Aufruf an das ganze Parlament, nun endlich eine Wahlrechtsreform zu beschließen, die nicht wieder vor dem Bundesverfassungsgericht landet.
Das ist der Vorgabe an den Gesetzgeber zu entnehmen, die das Urteil beschließt. Zwar ist die Fünfprozenthürde unter den gegebenen Umständen verfassungswidrig. Aber sie soll zumindest bis zur nächsten Wahl im Herbst kommenden Jahres gelten, und zwar unter Einbeziehung der Grundmandatsklausel. Also jener von der Ampelkoalition abgeschafften Regel, dass eine Partei, welche unterhalb der Fünfprozenthürde bleibt, dennoch im Bundestag ist, wenn sie drei oder mehr Direktmandate bekommt.
Die Begründung lautet, es sei nicht auszuschließen, dass das Parlament eine „Modifikation“ der Sperrklausel, also der Zugangshürde, nicht rechtzeitig zur nächsten Wahl vornimmt. Diese Modifikation aber verlangt das Gericht, sollte es beim Wahlgesetz der Ampel bleiben.
Das Urteil zeigt Misstrauen gegenüber dem Gesetzgeber
Der Grund ist sehr klar: Fiele die CSU bei der nächsten Wahl unter fünf Prozent bundesweit (und 2021 war sie davon nicht weit entfernt), dann wäre sie unabhängig von der Zahl an Direktmandaten, die sie gewinnt, nicht im Parlament. Das wäre aus Sicht der Richter aber ein Verstoß gegen die Integrationsfunktion der Wahl – in dem Fall nicht nur, weil eine relativ starke Partei nicht vertreten wäre, sondern auch das Land Bayern deutlich unterrepräsentiert bliebe. Solche Lücken sollte ein Wahlrecht nicht reißen.
Das Gericht hat sich somit zumindest für die nächste Wahl zum Ersatzgesetzgeber gemacht. Die Verfassungsjuristin Sophie Schönberger meint, dass aus dem Urteil ein Misstrauen gegenüber dem Gesetzgeber spricht. Das sei alarmierend.
Nun muss der Konsens gesucht werden
Nun sollten im Bundestag die Alarmglocken schrillen. Es muss ein Konsens gefunden werden, der eine große Mehrheit einbindet. Das Wahlrecht darf mit einfachem Gesetz geändert werden, also mit Regierungsmehrheit. Aber jede Stimme darüber hinaus macht ein Wahlgesetz politisch und juristisch fester und verlässlicher.
Dass das Wahlgesetz der Ampel in seinem Kern nicht gegen das Grundgesetz verstößt, kann es zur Basis der nächsten Reform machen. Aber die Union lehnt das gesamte Gesetz weiterhin ab. Insbesondere die CSU wird sich weiterhin gegen alles sperren, was ihrem bisher unstillbaren Wunsch nach Extrawürsten widerspricht. Sie will als Superpartei wahrgenommen werden.
Die Lektüre der Karlsruher Entscheidung sollte allerdings in Bayern die Gemüter deutlich kühlen. Der unmissverständliche Verweis auf die Möglichkeit einer Listenverbindung von CDU und CSU zur Modifikation der Sperrklausel ist der eigentliche Clou dieses Urteils.
Mit dieser schlichten Möglichkeit, welche die Ampel übrigens angeboten hatte, wäre das Problem verschwunden. Die CDU hat nun keinen Grund mehr, sich mit Verweis auf die Schwesterpartei zu winden und zu verweigern. So gesehen ist das Karlsruher Urteil wegweisend.
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