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„Berlin Mai 1945“: Das Foto von Valery Faminsky ist in einer Ausstellung in Berlin zu sehen.

© Valery Faminsky/Arthur Bondar’s Private Collection

Kriegsende am 8. Mai 1945: Von deutscher Identität

Heute vor 73 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Es war eine Befreiung – das aber ist noch nicht die ganze Geschichte. Ein Kommentar zum 8. Mai.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Es scheint alles klar zu sein. Im Zweiten Weltkrieg wurde Hitler-Deutschland von den Alliierten besiegt. Sowjets, Amerikaner, Franzosen und Briten befreiten Europa von der Geißel des Faschismus. Der 8. Mai 1945 besiegelt dieses Datum. In Moskau findet zum Gedenken an den „Großen Vaterländischen Krieg“ jedes Jahr eine Militärparade statt. Rund 27 Millionen Menschen aus der Sowjetunion waren von den Aggressoren umgebracht worden, knapp die Hälfte davon Zivilisten. In Russland wird Stalin, der ruhmreiche Held des Sieges über den Faschismus, heute stärker verehrt als etwa Michail Gorbatschow. In Deutschland wiederum fällt vielen beim Stichwort 8. Mai die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker ein, der 1985 den Tag der Niederlage zu einem Tag der Befreiung erklärte.

Das Bild ist richtig gezeichnet, aber es reflektiert eine sehr westdeutsche Sicht auf die Historie. War der 8. Mai 1945 tatsächlich der Tag des Kriegsendes und ein Tag der Befreiung? Drei lange Monate noch tobte der Krieg im asiatisch-pazifischen Raum weiter. Auch Japan gehörte zu den sogenannten Achsenmächten. Erst der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima („Little Boy“) und Nagasaki („Fat Man“) am 6. und 9. August 1945, der mehr als 200.000 Menschen das Leben kostete, zwang Kaiser Hirohito zur Kapitulation. Wird ein gerechter Krieg ungerecht, wenn Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden? Das „ius ad bellum“ (Recht zum Krieg) gilt an sich unabhängig vom „ius in bello“ (Recht im Krieg). Allerdings muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. In globaler Perspektive gab es ein überragendes Interesse daran, Japan möglichst rasch ebenso zu besiegen wie zuvor Deutschland.

Der Faschismus war geschlagen

Ein Tag der Befreiung? Ja, zweifellos. Der Faschismus war geschlagen, die überlebenden KZ-Insassen befreit, den unterjochten Völkern ihre Freiheit zurückgegeben worden. Zumindest die Westdeutschen konnten ihr Land wieder aufbauen, und sie wurden dabei großzügig durch den Marshallplan unterstützt. Die Schmach, trotz Roter Kapelle und den Widerständlern um Graf Stauffenberg den Sturz des Hitler-Regimes nicht selbst geschafft zu haben, wurde kompensiert durch Demokratie, Wirtschaftswunder, Rechtsstaatlichkeit sowie durch die Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Verteidigungsbündnis.

Anders sah es für Millionen Menschen in Osteuropa, dem Baltikum und der sowjetisch besetzten Zone aus. Für sie begann am 8. Mai 1945 der Übergang in eine andere, die kommunistische Diktatur. Die Speziallager in Buchenwald und Sachsenhausen wurden von den Sowjets einfach weitergeführt. In seinem Buch „Der SS-Staat“ beschreibt Eugen Kogon, wie es war: „NKWD-Personal bewacht die Gefangenen, verwaltet das System. Gegen frühere Nationalsozialisten? Gegen jedermann, der als ,Staatsfeind’ verdächtig ist. Oder als ,Agent einer ausländischen Macht’.“

Befreiung vom Faschismus? Ja. Befreiung von Zwang, Furcht, Terror, Unterdrückung? Für die andere Hälfte Europas galt das nicht. Es dauerte einige Zeit, bis das deutsche Holocaust-Gedenken auch andere Opfergruppen als die der Juden einschloss – Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas. Es bleibt mühsam und oft missverständlich, sowohl andere Genozide in den Blick zu nehmen (Herero, Armenier), als auch den europäischen Gedenkhorizont um jene Opfer zu erweitern, die der Kommunismus verursachte. Der Vorwurf einer Relativierung ist schnell erhoben. Dabei gehören drei Daten fest zusammen: der 27. Januar als Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, der 8./9. Mai als Sieg über den Faschismus sowie der 23. August als Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus. Am 23. August 1939 war der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen worden, auf dessen Grundlage Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel. Die Sowjetunion schloss sich der Aggression am 17. September an. Rund 200.000 polnische Zivilisten wurden zwischen 1939 und 1941 ermordet, je zur Hälfte von Wehrmacht und Roter Armee.

Welthauptstadt der Erinnerung

Berlin ist die Welthauptstadt der Erinnerung. Es gibt das Holocaust-Mahnmal, das Haus der Wannseekonferenz, das Jüdische Museum, das Kapitulationsmuseum, die Gedenkstätte Gleis 17 am Bahnhof Grunewald, die Topographie des Terrors. Außerdem gibt es das Haus am Checkpoint Charlie, das ehemalige Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen, die Maueropfer-Dokumentation an der Bernauer Straße. Und im alten Westteil der Stadt, im Bezirk Tiergarten, steht das sowjetische Ehrenmal. Nur ein zentrales Denkmal für die Opfer des Kommunismus gibt es nicht. Das Glück der Westdeutschen, am 8. Mai 1945 befreit worden zu sein, hat ihren Blick auf das spätere Leiden vieler Ostdeutscher und Osteuropäer getrübt.

Zur westdeutschen Besonderheit des Gedenkens gehört auch, dass ausgerechnet jene, die unter der Last der Geschichte besonders schwer ächzen, diese Last besonders schwer machen. Als am 24. September 2017 die AfD in den Bundestag einzog, lieferten sich am Alexanderplatz einige ihrer Anhänger ein Schreiduell mit Gegnern. „Ihr habt die Wahl verloren“, riefen die AfDler vom Balkon eines Clubs. Darauf die Antwort der Protestler: „Ihr habt den Krieg verloren.“

Die Anekdote enthält eine Pointe. AfD-Anhänger betonen ihre deutsche Identität. Sie verstehen den Begriff ethnisch. Migranten aus der Türkei, Italien, Polen, Russland, Syrien oder Afghanistan lassen sie als Deutsche nicht gelten. Doch je enger deutsche Identität verstanden wird, desto enger ist der familiengeschichtliche Bezug zum Nationalsozialismus. In der Parole „Ihr habt den Krieg verloren“ steckt daher ein wahrer Kern. Übersetzt heißt sie nämlich: Die von euch favorisierte Volksgemeinschaft weist den unmittelbarsten biografischen Bezug zur deutschen Vergangenheit auf. Hitler habe den Deutschen „das Rückgrat gebrochen“, sagt Alexander Gauland. Er muss es wissen – so deutsch, wie er ist.

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