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Chefepidemiologe Anders Tegnell (l.) und Johan Carlson, Leiter der Gesundheitsbehörde FHM.

© Imago Images/TT

Corona-Pandemie in Schweden: Kritik an Corona-Kurs – „Unzureichend, minderwertig, langsam“

Schwedens Corona-Strategie stand oft im Fokus. Die von der Regierung eingesetzte Untersuchungskommission findet nun deutliche Worte.

Schwedens Umgang mit der Coronavirus-Pandemie hat polarisiert – national wie international. Einen Lockdown gab es in dem Land mit seinen 10,2 Millionen Einwohnern im Gegensatz zu allen anderen europäischen Staaten nie. Die Verantwortlichen in Stockholm appellierten stattdessen an die Vernunft der Schwedinnen und Schweden. Zwar gab es Auflagen, aber die fielen im internationalen Vergleich äußerst moderat aus. Eine Maskenpflicht beispielsweise gab es nie.

Nationale wie internationale Kritiker warfen der schwedischen Gesundheitsbehörde FHM unter ihrem Leiter Johan Carlson und dem Chefepidemiologen Anders Tegnell schon früh vor, die Pandemie ungebremst durchs Land rauschen zu lassen und so die Gesundheit vieler Menschen in Schweden aufs Spiel zu setzen. Die beiden haben, offiziell als Berater für die rot-grüne Minderheitsregierung von Premier Stefan Löfven, Schwedens Pandemiestrategie maßgeblich bestimmt.

Heftige Kritik gibt es jetzt auch von den Experten der schwedischen Corona-Kommission. „Unzureichend und minderwertig“ sei der Umgang mit der Pandemie gewesen. Die Kommission veröffentlichte am Freitag ihren zweiten Teilbericht. Die Schärfe der Wortwahl darf als durchaus überraschend gewertet werden. Das Urteil muss auch als Kritik an Carlson und Tegnell verstanden werden.

Im vorgelegten Bericht heißt es: „Die anfänglichen Schutzmaßnahmen reichten nicht aus, um die Ausbreitung der Virusinfektion im Land zu stoppen oder auch nur stark einzuschränken.“ Dem Gesundheitswesen sei es kurzfristig gelungen auf die Versorgung der vielen Covid-19 Patient:innen zu reagieren, aber das sei zum großen Teil Verdienst des Personals.

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„Die Umstellung war mit einer extremen Belastung des Personals sowie mit der Streichung und Verschiebung von Behandlungen verbunden. Wir werden also noch lange Zeit mit den Folgen der Pandemie leben müssen.“

Die Autor:innen kritisieren auch das nur langsam aufgebaute Testangebot im Land. „Die Kommission ist der Ansicht, dass es kaum anders als eine Katastrophe bezeichnet werden kann, dass eine Diskussion über die Haftung und die Finanzierung dazu beigetragen hat, dass bis zum Ende der ersten Welle keine groß angelegten Corona-Tests durchgeführt wurden.“

Die Kommission kritisierte zudem das anfängliche Zögern bei der Infektionsverfolgung. „Die Kommission ist der Auffassung, dass (...) die späte Infektionsverfolgung die Bekämpfung der Pandemie erschwert hat“, heißt es. Auch mit dem Testen habe man viel zu spät begonnen. Bisher verzeichnete Schweden insgesamt 15.018 Covid-19-Tote und 1.170.422 Corona-Infizierte.

Covid-19-Tote/bestätigte Infektionen pro Million Einwohner:innen (Quelle: Sveriges Television/Johns-Hopkins-Universität):

  • Deutschland 1.152/54.912
  • Schweden 1.475/114.937
  • Dänemark 468/66.497
  • Finnland 209/28.445
  • Norwegen 169/38.524

Bei der Frage, wie es dazu kam, dass sich das Virus in Schweden ausbreitete, vertritt die Corona-Kommission die Ansicht, dass der Erreger wohl Ende Februar 2020 durch Reisende aus Italien und Österreich eingeschleppt wurde.

Die Experten kritisieren auch, dass die Virus-Ausbreitung schneller erfolgte, als die FHM-Daten zeigten. „Rückwirkend betrachtet, war der Anstieg der Infektionsausbreitung im März 2020 wahrscheinlich viel dramatischer, als es aus den von den Behörden in Echtzeit vorgelegten Daten ersichtlich war“, heißt es in dem Bericht.

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Der Mangel an bereitgestellten Daten erschwere es den Verlauf der Pandemie zu beobachten. Die Kommission schließt ihren Bericht ab, dass Schwedens Umgang mit dem Coronavirus „zu einer Reihe von Problemen bei der Bekämpfung der Pandemie geführt hat. “

Als weiteres Hindernis sieht die Kommission, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für strengere Maßnahmen nicht früher geschaffen wurden. „Schon während der ersten Welle hätte klar sein müssen, dass die Instrumente des Gesetzes unzureichend waren.“

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Erst während der zweiten und dritten Welle führten die Regierung strengere Maßnahmen ein, die sie während der ersten Welle abgelehnt oder ausdrücklich unterlassen hatten. Dazu zählten Einschränkungen für Restaurants, Familienquarantäne, Maßnahmen zur Vermeidung von Menschenmassen im Einzelhandel und Empfehlungen zum Tragen von Masken im öffentlichen Verkehr. Diese Kehrtwende habe in der Bevölkerung vermutlich für Verwirrung gesorgt. Die Auflagen sind mittlerweile seit dem 29. September vollständig aufgehoben.

Am 30. Juni 2020 hatte die schwedische Regierung auf Druck der Opposition eine Corona-Kommission eingesetzt. Sie soll die Maßnahmen der schwedischen Regierung im Umgang mit der Pandemie bewerten. Die achtköpfige Kommission, die sich aus Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen zusammensetzt, arbeitete für die diesen Bericht mit Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen aus der Virologie, Immunologie und Epidemiologie zusammen.

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Schon im ersten Teilbericht waren Regierung und FHM scharf kritisiert worden. „Der Pflegebereich war unvorbereitet und schlecht ausgerüstet, um eine Pandemie zu bewältigen“, hieß es in dem 300-Seiten-Bericht, der Mitte November 2020 veröffentlicht wurde.

„Für diese Versäumnisse trägt die jetzige Regierung, wie auch die früheren, die eindeutige Verantwortung“, lautet das Urteil der Sachverständigen. Der Abschlussbericht wird für Februar 2022 erwartet. Darin soll dann auch beurteilt werden, ob andere Maßnahmen besser gewesen wären.

Aktuell ist das Infektionsgeschehen in Schweden deutlich geringer als in vielen anderen Ländern Europas, eine vierte Welle zeichnet sich noch nicht ab. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt stabil zwischen 40 und 50. Der Hauptgrund: In Schweden sind inzwischen 80 Prozent der über 16-Jährigen vollständig geimpft.

Diese hohe Impfbereitschaft verhindere, dass sich das Coronavirus ausbreite, sagte Tegnell gerade: „Die wichtigste Bremse sind Impfungen. Und hier ist Schweden sehr gut vorangekommen. Wir haben sehr viele der Allerschwächsten in der Gesellschaft durch unsere Impfanstrengungen erreicht. Und wir glauben, dass das momentan verhindert, dass die Infektionszahlen trotz vermehrter sozialer Kontakte wieder ansteigen.“

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