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Überfüllte Intensivstationen. Deutschlands Menschenrechtsinstitut hält die Triage-Regeln der Ärzteverbände für grundrechtswidrig.

© Fabian Strauch/dpa

Menschenrechtsbericht für Deutschland: Menschenrechtsinstitut nennt Triage-Regeln verfassungswidrig

Das Deutsche Institut für Menschenrechte fordert eine gesetzliche Grundlage für die Triage. Die jetzigen Regeln stünden nicht im Einklang mit den Grundrechten.

Stand:

Die Regeln für die Triage in Katastrophenfällen und der aktuellen Pandemie seien menschenrechtswidrig, sagt das Deutsche Institut für Menschenrechte. Es mahnt in seinem neuesten Bericht an Bundestag und Parlament an, dringend eine gesetzliche Grundlage dafür zu schaffen, wer die nötige Therapie bekommt und wer nicht, wenn – wie unter Covid – zum Beispiel Intensivstationen überfüllt sind oder Beatmungsgeräte fehlen.

Die unverbindlichen Regeln der fachärztlichen Vereinigungen, nach denen sich Ärztinnen und Ärzte bisher richten, genügten dafür nicht, mehr noch, sie stünden „nicht im Einklang mit den Grund- und Menschenrechten“, urteilt Deutschlands nationale Menschenrechtseinrichtung.

Das Institut rügt vor allem die Regeln der Intensivmediziner:innen: „Bei der Triage geht es um scheinbar objektiv bestimmbare Erfolgsaussichten; letztlich steht aber die Bewertung von Leben im Raum (…) Selbst ein absehbarer Tod oder eine kurze Lebensdauer sind kein Grund, einen Menschen zugunsten eines anderen zu opfern.“ Der Bundestag habe die Pflicht zu einem Gesetz, das Triage-Situationen in Einklang mit dem Grundgesetz regle.

 Impfgerechtigkeit ist Pflicht, aber auch im Sinn der reichen Länder

Kritisch beurteilt der Bericht auch die Rechte von Behinderten und fremdbetreuten Menschen während der Pandemie: Erst im Laufe der pandemischen Notlage, vor einem Jahr, habe die damalige Bundesregierung nachgesteuert und im novellierten Infektionsschutzgesetz ein Mindestmaß an sozialem Kontakt zwischen ihnen und ihren Helfern und Betreuenden ermöglicht.

Der Bericht nimmt sich auch die weltweit ungerechte Verteilung von Impfstoff vor. Bis August hätten die reichen Länder der Welt fast Dreiviertel der Impfstoffe erhalten, die ärmsten lediglich 2,7 Prozent. Die Menschenrechtsfachleute erinnern daran, dass die Vertragsstaaten des UN-Sozialpakts – den auch Deutschland unterschrieben hat – dazu verpflichtet sind, Impfstoffe gerecht zu verteilen.

Dass dies nicht geschehe, bedrohe nicht allein die Gesundheit und Lebenschancen von Menschen in ärmeren Teilen der Welt: „Sie wird auch zur weltweiten Bedrohung, denn ohne hohe Impfquoten weltweit wird sich die Pandemie nicht eindämmen lassen“, schreiben sie im Bericht.

[Lesen Sie auch: Die schwierige Lage auf den Intensivstationen: Wann sind Kliniken überlastet – und was passiert dann mit Patienten? (T+)]

Harte Kritik formuliert der Bericht auch an den verweigerten Rechten von Geflüchteten, vor allem der Familienzusammenführung, die rechtlich schwierig sei, praktisch aber „unmöglich“.  Obwohl das Recht auf Ehe Familie ein Grund- und Menschenrecht sei, würden Anträge oft abgelehnt, wobei die Zahlen nicht einmal erfasst würden. Auf den Nachzug mindestens von Geschwistern hätten Minderjährige ebenfalls kein Recht.

Die Begrenzung von 1000 Visa zum Familiennachzug pro Monate werde „seit der Einführung im August 2018 weder ausgeschöpft, noch auf die Folgemonate übertragen“. Die Trennung und das teils jahrelange Warten auf die Familie, so der Bericht, „führt bei den Geflüchteten zu Perspektivlosigkeit und Verzweiflung, insbesondere bei Minderjährigen.”

Der Bericht berücksichtigt allerdings nur Entwicklungen bis zum Juni 2021. Die Absichten der Ampelkoalition, die seit Mittwoch regiert, konnten deshalb nicht einfließen. SPD, Grüne und FDP haben im Koalitionsvertrag zum Beispiel grundlegende Verbesserungen beim Familiennachzug und der deutschen Visapraxis versprochen.

 Kritik an Seehofer, der Rassismus bestritt

Gleiches gilt für Maßnahmen gegen Diskriminierung und Rassismus. Das Institut lobt, dass nach den Attentaten von Halle und Hanau und nach dem Mord  am CDU-Landrat Walter Lübcke  2019 und 2020 nun seit Juli das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität in Kraft sei und die Regierung im November letzten Jahres ein Paket von 89 Maßnahmen gegen Rassismus und Rechtsextremismus beschlossen habe. Sie rügt aber den früheren Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Er hatte immer wieder bestritten, dass es diskriminierende Kontrollen bei der Polizei und institutionellen Rassismus gebe.

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Das Institut kritisiert seit Jahren, dass etwa der Paragraf 22 des Bundespolizeigesetzes Polizist:innen geradezu zum racial profiling ermutige, also zu Kontrollen aufgrund der Hautfarbe. Seehofer beauftragte allerdings noch kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt eine Studie zu Rassismus in der Gesellschaft, die sich der Polizei in einem eigenen Kapitel widmen soll.

Der Koalitionsvertrag der Ampel nimmt einige Forderungen des Instituts bereits auf, unter anderem, Polizei und Justiz menschenrechtlich zu schulen und Beschwerdestellen für Menschen einzurichten, die Diskriminierung und Rassismus in Behörden erleben. Berlin verfügt darüber bereits.  

Das Deutsche Institut für Menschenrechte wurde vor 21 Jahren von der damaligen rot-grünen Regierung Schröder gegründet. Es ist nach international gültigen Regeln Deutschlands nationale Menschenrechtsinstitution und dafür zuständig, die Menschenrechtslage im eigenen Land zu beobachten und Verbesserungen anzuregen und zu begleiten. Seit 2015 hat es eine gesetzliche Grundlage und wird vom Bundestag finanziert, der seither auch einmal im Jahr einen Bericht erhält. Der aktuelle Bericht Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2020-Juni 2021 ist der sechste.

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