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Unverkennbar: Angela Merkel und ihre typische Handhaltung

© Reuters/Fabrizio Bensch

Merkels Flüchtlingspolitik: Deutschland sucht den Sündenbock

Merkels Flüchtlingspolitik sei schuld am Erfolg der AfD, heißt es, am Brexit, habe die PiS an die Macht gebracht, Europa gespalten. Wirklich? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Von Johann Nestroy stammt das Werk „Der Talisman“. Die Theaterkritik nennt es eine „Posse mit Gesang“. Darin jagt ein Bonmot das nächste. Im zweiten Akt läuft Emma zu ihrer Mutter und ruft: „Mama, ich komme, die Constanze zu verklagen, sie hat mich durch ihr Benehmen gezwungen, sie eine dumme Gans zu heißen.“

In diesem Satz bündelt sich die weit verbreitete Strategie einer sich selbst entmündigenden Exkulpation. Sie ähnelt der Ausrede von Vergewaltigern, ihr Opfer habe einen Minirock getragen. Man kann es nicht oft genug sagen: Verantwortlich für eine Tat ist stets der Täter, für ein Verbrechen der Verbrecher und für das Ergebnis einer Wahl der Wähler.

Doch auch in der Politik herrscht derzeit eine Ausdehnung des Verantwortungsbegriffs. Angela Merkels Flüchtlingspolitik sei schuld am Erfolg der AfD, heißt es, sie habe den Ausgang des Brexit-Referendums beeinflusst, in Polen die nationalpopulistische PiS an die Macht gebracht, den Antisemitismus in Deutschland befördert, Europa gespalten. Nach dem Mord der 14-jährigen Schülerin Susanna aus Wiesbaden durch einen Flüchtling aus dem Irak schrieb ein YouTube-Nutzer: „Alle ,Refugees-welcome’-Schreier haben mitgemordet.“

Der Cui-bono-Aspekt ist nebensächlich

Die Erwiderungen liegen auf der Hand. Nicht Merkel & Co verantworten den Aufstieg der AfD, sondern die Wähler der AfD. Nicht Merkel & Co verantworten den Brexit, sondern die Brexiteers. Nicht Merkel & Co haben die PiS an die Macht gebracht, sondern die Wähler der PiS. Nicht Merkel & Co haben Europa gespalten, sondern jene Länder, die sich in der Flüchtlingspolitik unsolidarisch zeigten.

Politiker sollen tun, was sie in einer konkreten Situation für richtig halten. Der Cui-bono-Aspekt – wer profitiert vielleicht noch von der Entscheidung? – ist nebensächlich. Kausalketten lassen sich immer konstruieren, sie dürfen die Akteure aber nicht handlungsunfähig machen. Etwas durch seine Maßnahme ermöglicht oder gar mitbewirkt zu haben, heißt nicht, für diese Wirkung im vollen Sinne verantwortlich zu sein. Es ist dann ein unerwünschter, nicht beabsichtigter Nebeneffekt. Merkel zu unterstellen, sie habe mit ihrer Politik die AfD, den Brexit, die PiS oder eine Zunahme des Antisemitismus gewollt, ist absurd.

Was ist richtig, was falsch? Das zu beantworten, ist oft dringlicher, als über mögliche missliebige Profiteure zu mutmaßen. Es kann richtig sein, im Wahlkampf über die Flüchtlingspolitik zu sprechen, auch wenn das der AfD nützt. Es kann notwendig für die SPD sein, sich von Hartz IV zu verabschieden, obwohl sie damit den Linken in die Hände spielt. Und wenn Annegret Kramp-Karrenbauer sagt, „bestimmte Regionen Syriens könnten in absehbarer Zeit sicher genug sein, um abgelehnte, straffällig gewordene Asylsuchende dorthin abzuschieben“, sollte dies nicht in erster Linie nach taktischen Motiven bewertet werden.

Die Ausdehnung des Verantwortungsbegriffs mündet im Folgenabschätzungswahn. Der aber lähmt. Handeln dagegen erfordert Mut und birgt das Risiko unbeabsichtigter Nebenfolgen. Dass Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen getroffen werden, sollte man verlangen. Mehr nicht.

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