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Unter Druck in der Russlandkrise: Kanzler Olaf Scholz (SPD).

© Susana Vera/REUTERS

Gabriel fordert härteren Russlandkurs von Scholz: „Nord Stream 2 kann nicht kommen, wenn Russland die Ukraine angreift“

Nord Stream 2 sei ein rein privatwirtschaftliches Projekt, sagt Kanzler Olaf Scholz. Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel sieht das anders und warnt vor einem Krieg.

Sigmar Gabriel war von 2009 bis 2017 SPD-Vorsitzender und von 2013 bis 2018 Vizekanzler, erst als Bundeswirtschafts-, dann als Bundesaußenminister. Er ist heute unter anderem Vorsitzender Atlantikbrücke.

Im Interview mit dem Tagesspiegel äußert sich zu seiner veränderten Sicht auf Wladimir Putin, Fehler der SPD und warum für ihn Nord Stream 2 kein rein privatwirtschaftliches Projekt ist. Diesen Standpunkt vertritt Kanzler Olaf Scholz (SPD), der es anders als die Grünen nicht politisch stoppen oder zur Disposition stellen will.

Herr Gabriel, wie kann Europa härter gegen Russland auftreten?
Zunächst einmal wäre es ja gut, wenn Europa sich überhaupt ernsthaft in die Verhandlungen mit Russland einmischen würde. Ich finde es beschämend, wie sehr viele in Europa sich wegducken und froh sind, dass die USA mal wieder die „heißen Eisen“ verhandeln. Im Grunde bestätigen wir die russische Regierung darin, dass Europa bloßes Objekt von Verhandlungen ist, selbst aber keine Rolle spielt.

Aus russischer Sicht ist es normal, dass mit Amerika über Europas Aufteilung verhandelt wird. Das war 1944/45 so, 1989 und Mitte der 90er Jahre. Heute sind die Russen unzufrieden mit ihren damaligen Verhandlungsergebnissen und nun wollen sie die letzten 30 Jahre rückgängig machen. Und das verhandelt man eben mit dem alten Partner.

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Verstehen Sie, was Wladimir Putin will?
Russland will zurück in die Welt der alten Einflusssphären, wo die Großmächte über den Rest der Welt verhandeln. Aber wollen wir Europäer das eigentlich so laufen lassen? Wo sind all die großen Reden geblieben, dass Europa zum „geopolitischen Akteur“ werden soll und „die Sprache der Macht lernen“ müssen?

Sigmar Gabriel als Vorsitzender der Atlantik-Brücke vor einer Bundespressekonferenz.
Sigmar Gabriel als Vorsitzender der Atlantik-Brücke vor einer Bundespressekonferenz.

© Britta Peddersen/dpa

Und was passiert eigentlich, wenn der US-Präsident irgendwann nicht mehr Joe Biden heißt und die USA sich immer mehr dem Indo-Pazifik zuwenden? Es könnte ein entscheidender Moment für Europa sein. Vielleicht verhandeln die USA zum letzten Mal über Europas Schicksal mit einer fremden Macht. Ich würde mir jedenfalls wünschen, wir Europäer säßen nicht am Katzentisch und würde auch eine eigene Stärke mit einbringen.

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Wie konkret könnte man schneller unabhängiger von russischem Gas werden, wäre der Preis nicht eine stärkere Abhängigkeit von Katar?
Der Vergleich mit Katar hinkt nicht nur, er hat gar keine Beine. Weder hat Katar jemals einen europäischen Staat bedroht noch sonst irgend jemanden auf der Welt. Das Land ist einer der wenigen verlässlichen Partner des Westens und übernimmt auf Bitten der USA und Europas sehr unangenehme Aufgaben.

Das Hauptquartier der Hamas ist beispielweise auf Wunsch der USA in Doha. Und mit den Taliban wurde ebenfalls auf Wunsch der US-Administration in Doha verhandelt. Nicht zuletzt haben die Qataris viele Deutsche aus Afghanistan ausgeflogen, als die Bundeswehr sich das schon nicht mehr zutraute. Katar hat sich auf den Weg gemacht, innere Reformen durchzusetzen insbesondere am Arbeitsmarkt, die wir in Deutschland meist nicht zur Kenntnis nehmen. Es ist ein enger Partner Deutschlands und ein sehr stabiler und verlässlicher Investor in deutschen Unternehmen.

Menschenrechtler sehen Katar weniger positiv, aber ist es überhaupt realistisch, hierin eine große Alternative zu sehen?
Deutsche Unternehmen nehmen bislang kein Flüssiggas aus Katar, weil es einfach teurer ist als russisches Pipelinegas. Aber wenn wir einen Krieg verhindern wollen, müssen wir auch bereit sein, einen Preis dafür zu zahlen. Eigene Stärke in Verhandlungen bekommt man nur, wenn man der russischen Drohung eines militärischen Einmarsches in der Ukraine ernsthaft etwas entgegensetzt. Russland muss den Preis für einen Krieg in Europa kennen. Diesen Preis dürfen wir nicht nur den USA überlassen.

Was heißt das für Nord Stream 2, was die SPD bisher nicht zur Disposition stellen will?
Natürlich kann Nord Stream 2 nicht kommen, wenn Russland die Ukraine angreift. Russland würde damit die Voraussetzungen für die Zustimmung Deutschlands zu Nord Stream 2 zerstören. Denn es war in den Verhandlungen mit Russland immer klar, dass die Integrität und sogar die Nutzung der Pipeline durch die Ukraine durch Russland nicht infrage gestellt wird. Insofern war es nie ein rein wirtschaftliches Projekt, sondern immer an politische Bedingungen geknüpft, die der russische Präsident immer akzeptiert hat. Auch in Gesprächen mit mir persönlich. Ich würde mich wirklich als einen Entspannungspolitiker bezeichnen, der den Ausgleich mit Russland sucht. Aber bei der Androhung von Krieg ist bei mir jedes Verständnis vorbei.

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Sind wir in einem Jalta 2.0-Moment, wo andere Großmächte – Russland und die USA - über die künftige Machtarchitektur Europas diskutieren und gehört es nicht zur Realität, dass niemand der Ukraine im Ernstfall militärisch helfen wird?
Hier geschieht etwas Ungeheuerliches: Ein Land droht seinem Nachbarland mitten in Europa mit einem militärischen Überfall! Kiew ist nur eine gute Flugstunde entfernt von Berlin. Für uns Deutsche und Europäer ist das unvorstellbar.

Nimmt man den stellvertretenden russischen Außenminister beim Wort, dann gilt das für sein Land nicht, sondern dort scheint Krieg ein denkbares Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen.

Andere Länder – nicht nur die Ukraine, sondern zum Beispiel auch Schweden und Finnland sollen nicht mehr frei entscheiden können, welchem Bündnissystem sie angehören wollen.

Russland nutzt einfach die Gelegenheit eines schwachen Europas und eines geschwächten US-Präsidenten, dessen Kräfte im eigenen Land gebunden sind, um seinen Einfluß in Europa zu vergrößern.

Wenn wir jetzt dabei mitmachen, wer sagt uns dann, dass übermorgen nicht die nächsten Staaten an der Reihe sind. Es geht um weit mehr als um die Ukraine.

Was halten Sie vom Modell einer „Finnlandisierung“ der Ukraine, Zusicherung einer Neutralität, kein NATO-Beitritt?
 Zunächst mal gab es weder aktuell noch in näherer Zukunft Pläne dafür, dass die NATO sich erneut erweitert. Deutschland und Frankreich haben 2008 einen NATO Beitritt der Ukranie und Georgiens, wie ihn die USA wollten, aus pragmatischen Gründen abgelehnt. In Schweden und Finnland wird überhaupt erst wieder über einen NATO-Beitritt diskutiert, seit Russland das diesen Ländern verbieten will.

Es ist nicht das erste Mal, dass Russland versucht, insbesondere Deutschland dazu zu bewegen, die NATO-Erweiterungen generell und aus Prinzip zu verweigern. Das war auch nach der deutschen Einheit der Fall, die ja die erste Erweiterung der EU und der NATO nach Osten war. Die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl hat das mit sehr guten Gründen abgelehnt. Denn es wäre sonst mitten in Europa eine Grauzone, ein Machtvakuum entstanden. Und die Länder, die in dieser Grauzone verblieben wären, hätten sich als Spielball fremder Mächte angeboten. Die historische Erfahrung Europas ist doch, dass Unsicherheiten aus so einem Machtvakuum immer das Risiko weiterer Konflikte bis hin zu Krieg zur Folge haben können.

2017 verstanden sie sich noch gut: Außenminister Sigmar Gabriel und Russlands Präsident Wladimir Putin.
2017 verstanden sie sich noch gut: Außenminister Sigmar Gabriel und Russlands Präsident Wladimir Putin.

© Alexey DRUZHININ/AFP

Putin hingegen fürchtet eine weitere NATO-Osterweiterung...
Die Osterweiterung der NATO und der EU war doch die erste verlässliche Sicherheitsarchitektur seit dem westfälischen Frieden. Für Russland waren weder NATO noch die EU jemals eine Gefahr. Nicht einmal NATO-Truppen wurden in den neuen Mitgliedsstaaten stationiert. Die NATO steht also gar nicht an Russlands Grenzen. Nur im Baltikum gibt es seit dem Einmarsch der Russen auf der Krim einen NATO-Verband, der aber nicht einmal permanent organisiert ist. Umgekehrt muss sich Russland fragen lassen, warum eigentlich so viele mittel- und osteuropäische Staaten in die NATO wollten und wollen? Doch ganz offensichtlich, weil sie nicht zum Spielball Russlands werden wollen.

[Lesen Sie auch: Gefahr einer Eskalation im Ukraine-Konflikt „wie ist Putin noch zu stoppen? (T+)]

Hat die SPD zu lange zu nachsichtig auf Russland geschaut, wegen Willy Brandts Wandel durch Annäherung?
Der große Unterschied zu der Entspannungspolitik Willy Brandts gegenüber der früheren Sowjetunion und der Haltung gegenüber Russland ist, dass die alte Sowjetunion eine Status-QuoMacht war. Sie wollte ihr Einflussgebiet absichern. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, der Warschauer und der Moskauer Vertrag und nicht zuletzt die Schlußakte von Helsinki haben das garantiert.

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Im Gegenzug hat übrigens die Sowjetunion damals auch dem Menschenrechtsteil in Helsinki zugestimmt. Die späteren Oppositionsbewegungen in Osteuropa konnten sich darauf berufen.

Das heutige Russland aber ist eine eher revisionistische Macht: es will Grenzen verändern. Notfalls mit militärischer Gewalt. Deshalb sind die Ausgangsvoraussetzungen ganz anders als in den 60er und 70er Jahren.

Letztlich war der Westen damals auch stärker, das gehört auch zur Wahrheit dazu...
Eines ist gleich: Brandt wurde nur ernst genommen, weil die Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis völlig klar war. Nur die Härte in dieser Position hat dazu geführt, dass einerseits die USA nach anfänglichem Zögern der Entspannungspolitik zugestimmt haben, aber auch die Sowjetunion wusste, dass sich Deutschland niemals in einer Grauzone bewegen würde und sich deshalb als Verhandlungspartner eignet, nicht aber als Spielball. Stärke und Dialogbereitschaft sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

Das Interview mit Sigmar Gabriel wurde schriftlich geführt.

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