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Boris Pistorius (SPD), Bundesminister der Verteidigung, aufgenommen bei einem Besuch der Panzertruppenschule im niedersächsischen Munster (Archivbild vom 20.02.2023).

© dpa/Christian Charisius

Update

Pistorius plant Erfassung von Wehrpflichtigen: Minister rechnet mit 5000 neuen Rekruten pro Jahr

Der SPD-Verteidigungsminister formuliert die ersten Schritte hin zu einem „neuen Wehrdienst“. Rund 400.000 junge Männer würden zunächst verpflichtet sein, einen Fragebogen auszufüllen.

Stand:

Verteidigungsminister Boris Pistorius stellte am Mittwoch in der Bundespressekonferenz seine Pläne vor, um die Personallücken bei der Bundeswehr zu schließen. Der SPD-Politiker will für ein neues Wehrpflichtmodell die vor 13 Jahren ausgesetzte Erfassung von Wehrfähigen wieder aufbauen - und begründete dies mit einer „anderen Bedrohungslage als vor wenigen Jahren“. „Man muss davon ausgehen, dass Russland 2029 in der Lage sein wird, einen Nato-Staat anzugreifen“, so Pistorius.

Ein wesentliches Element wird ein amtliches Schreiben sein, das alle Männer und Frauen mit deutschem Pass ab ihrem 18. Lebensjahr zugeschickt bekommen. Die Männer sind dann verpflichtet, in einem Fragebogen Auskunft über ihre Bereitschaft und Fähigkeit zum Dienst zu geben.

Er gehe davon aus, dass ein Viertel davon Interesse habe, zur Bundeswehr zu gehen. „Wir wollen die Besten und die Motiviertesten“, betonte Pistorius. Die geeigneten Kandidaten sollen nach einer Musterung bestimmt werden.

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Auch Frauen sollen diesen Fragebogen erhalten, allerdings ohne Verpflichtung, ihn auszufüllen, erklärte Pistorius. Man wolle sich aber verstärkt um sie bemühen.

Der Minister geht dabei davon aus, dass pro Jahr 400.000 junge Männer den Fragebogen ausfüllen müssten, und er schätzt, dass ein Viertel davon Interesse bekunden könnte, also 100.000 Männer ihre Bereitschaft erklären.

Wehrdienst soll bis zu einem Jahr dauern

Vorgesehen ist es, 40.000 bis 50.000 Kandidaten zur Musterung zu bestellen. Pistorius geht davon aus, dass mit seinem Konzept eines neuen Wehrdienstes jedes Jahr 5000 zusätzliche Soldaten für die Bundeswehr zur Verfügung stehen werden, zusätzlich zu den aktuell rund 10.000 freiwillig Wehrdienstleistenden. Die Auserwählten sollen einen Grundwehrdienst von sechs Monaten leisten oder sich für bis zu 23 Monate verpflichten können.

Künftig sollen es mehr werden, wenn die Ausbildungskapazitäten vorhanden sind, wie der Minister erklärte. Das Recht zur Kriegsdienstverweigerung bleibt laut Pistorius erhalten. Auch wer anfangs sein Interesse für die Bundeswehr signalisiert hat und bei der Musterung ausgewählt wurde, muss damit nicht zwingend den Dienst an der Waffe antreten.

Bundeswehrverband fordert Pflichtanteil

Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, André Wüstner, hat zuvor entschlossene Schritte für einen neuen Wehrdienst gefordert. Die Personalzahlen in der Bundeswehr seien in diesem Monat auf den tiefsten Stand seit 2018 gefallen, sagte der Oberst der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.

Er hoffe, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bei der angekündigten Vorstellung seines Wehrdienst-Modells bei geplanten Pflichtanteilen bleibe. „Mit Freiwilligkeit allein wird es nach meiner Auffassung nicht funktionieren“, sagte Wüstner.

André Wüstner, Bundesvorsitzender des Bundeswehrverbands, verfolgt von der Besuchertribüne die Debatte zur Außen- und Sicherheitspolitik im Bundestag.

© dpa/Michael Kappeler

Welche Vorstellungen die SPD (nicht) hat

Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken setzt beim neuen Wehrdienst-Modell auf Freiwilligkeit. „Für mich ist das Erleben von Selbstbestimmung ganz entscheidend für die Akzeptanz der Demokratie“, sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Mittwoch). Freiwilligkeit sei „auch in Bezug auf ein Engagement bei der Bundeswehr und der damit einhergehenden großen Verantwortung für die Sicherheit Deutschlands das richtige Prinzip“.

Auch SPD-Chef Lars Klingbeil hat sich dafür ausgesprochen, bei der Rekrutierung weiterhin auf Freiwilligkeit zu setzen. „Ich finde, wir sollten es freiwillig probieren, indem wir die Bundeswehr noch attraktiver machen“, sagte er.

Nach Angaben des SPD-Verteidigungsexperten Andreas Schwarz wird ein Schwerpunkt „auf die Erfassung von wehrfähigen Personen gelegt, die die Grundlage für einen stetigen Aufwuchs der Truppe legen soll“. Damit verbunden seien zusätzliche Investitionen in Kasernen, Ausrüstung und Ausbildung, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Mittwoch). „Sollte das Prinzip der Freiwilligkeit nicht funktionieren, muss in Anbetracht der Bedrohungslage auch über weitere verpflichtende Elemente diskutiert werden.“

Der SPD-Verteidigungsexperte Johannes Arlt hat Pistorius’ Pläne begrüßt. Deutschland brauche neben den aktiven Soldaten und Soldatinnen eine starke Reserve, die sich immer wieder aus jungen Staatsbürgern regenerieren müsse, sagte Arlt am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur. Für die Reserve gebe es das Problem, „dass wir zum Großteil auf eine permanent alternde Kohorte an Männern blicken, die das vierzigste Lebensjahr bereits überschritten hat“, sagte Arlt. „Viele körperliche Tätigkeiten sind jedoch eindeutig besser und leistungsfähiger von Lebensjüngeren zu erbringen.“

Auch wenn er sich wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Einführung eines allgemeinen Gemeinschaftsdienstes gewünscht hätte, müsse er feststellen, dass diese „große Lösung“ mit den derzeitigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat nicht umsetzbar sei, sagte Arlt. Der Pistorius-Plan sei deswegen „in der derzeitigen Situation der bestmögliche Politikvorschlag“.

Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, ist davon überzeugt, dass das neue Modell helfen kann, „die Personalprobleme der Bundeswehr anzugehen“. Es würde auch einen wichtigen Beitrag zu unserer Wehrhaftigkeit leisten, so Högl. „Denn die gesamte Gesellschaft muss unseren Frieden, unsere Freiheit und unsere Demokratie verteidigen - militärisch und zivil“, erklärte sie.

Dazu müssten alle einen Beitrag leisten. Högl: „Dafür braucht es einen modernen Wehrdienst mit einer Kombination aus Freiwilligkeit und Pflicht. Perspektivisch muss das dann für alle Geschlechter gelten.“

Unionspolitiker fordern auch Frauen-Wehrpflicht

Unionspolitiker haben unterdessen eine Wehrpflicht auch für Frauen gefordert. „Ich glaube, dass wir zwischen den Geschlechtern keine Unterscheidung mehr machen können“, sagte Fraktionsvize Johann Wadephul am Mittwoch im ZDF-„Morgenmagazin“. Das werde in anderen Bereichen auch nicht gemacht. Möglicherweise müssten Änderungen im Grundgesetz geprüft werden.

Es könne und müsse sofort mit dem Wehrdienst angefangen werden. „Deswegen kann ich den Verteidigungsminister jetzt nur auffordern, gleich was Richtiges zu machen. Wir brauchen jetzt einen großen Wurf – mit Stückwerk kommen wir nicht weiter“, sagte Wadephul.

Auch die CDU-Verteidigungsexpertin Serap Güler forderte eine Wehrpflicht für Frauen. Die von Pistorius geplanten 10.000 Rekruten pro Jahr seien „nur ein Anfang“, sagte Güler dem Magazin „Politico“ (Mittwochsausgabe). „Wir müssen schon über eine Vervierfachung mindestens sprechen“, fügte sie hinzu. Das werde zwar teuer, sei aber finanzierbar.

„Man muss sich den Sozialhaushalt anschauen, da ist wirklich noch einiges im Argen“, sagte Güler. Auch bei der Entwicklungshilfe gebe es Einsparpotenzial. Aus heutiger Sicht sei es ein Fehler gewesen, die Wehrpflicht auszusetzen. Dies müsse jetzt korrigiert werden.

Wie die Personallage ist

André Wüstner sagte, der Personalbedarf der Bundeswehr liege heute weit über der seinerzeit politisch gesetzten Zielgröße von 203.300 Soldatinnen und Soldaten. Das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr aus dem Jahr 2018 habe rechnerisch bereits mehr als 240.000 Männer und Frauen vorgesehen. Aufgrund zusätzlicher politischer Aufträge seit dem Februar 2022 und zunehmender Nato-Verpflichtungen „dürfte die Zahl aktuell weit darüber liegen“. Trotz einer Personaloffensive war die Bundeswehr im vergangenen Jahr auf 181.500 Soldatinnen und Soldaten geschrumpft.

Wüstner sagte, eine „neue Wehrform“ würde helfen, denn in der Vergangenheit hätten sich viele Wehrpflichtige entschieden, in der Bundeswehr zu bleiben, einige seien auch Berufssoldaten geworden. Damals habe man die Bundeswehr mehr als jetzt als „Spiegelbild der Gesellschaft“ bezeichnen können. Auch sei die Wehrpflicht das Fundament zur Bildung einer starken Reserve gewesen. Sie habe der Aufwuchsfähigkeit, dem Feldersatz und damit der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit gedient.

„In den kommenden Tagen wird sich zeigen, bei wem seit Ausrufung der Zeitendwende zumindest verteidigungspolitisch tatsächlich eine Erkenntniswende eingetreten ist“, sagte Wüstner mit Blick auf die bevorstehende Debatte. „Denn wer das von sich behauptet – ich hoffe, dass es zumindest die Fachpolitiker tun – der wird sich nicht pauschal gegen eine neue Wehrform oder eine neue Art Wehrpflicht wenden können.“

Pistorius hat – auch unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verschiedene Modelle einer Dienstpflicht prüfen lassen. Bei einer Regierungsbefragung im Bundestag ließ er durchblicken, dass er beim Wehrdienst nicht auf komplette Freiwilligkeit setzt. Wiederholt betonte er, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden, um zusammen mit den Nato-Verbündeten glaubhaft abschrecken zu können. (dpa, AFP, Tsp, Reuters)

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