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Boris Pistorius im Bundestag - noch muss der Verteidigungsminister seine Koalition von seinem Wehrdienst-Modell überzeugen.

© dpa/Christoph Soeder

Pistorius’ Wehrdienst-Vorschlag: Selbst der erste kleine Schritt ist der Ampel zu groß

Der Verteidigungsminister schafft mit der Online-Erfassung potenzieller Wehrdienstleistender die Voraussetzung für das, was noch ansteht. Mehr ließ die Koalition noch nicht machen.

Christopher Ziedler
Ein Kommentar von Christopher Ziedler

Stand:

Die Diskrepanz zwischen Problemanalyse und Problemlösungsvorschlag könnte kaum größer sein. Einerseits geht der Verteidigungsminister davon aus, dass Russland rüstungstechnisch in fünf Jahren in der Lage wäre, ein Nato-Land anzugreifen und Deutschland zur Bündnisverteidigung 460.000 Männer und Frauen stellen müsste - rund 220.000 mehr als aktuell verfügbar. Andererseits will Boris Pistorius mit seinem neuen Wehrdienst-Modell nächstes Jahr gerade einmal 5000 Freiwillige zusätzlich für die Bundeswehr gewinnen.

Zugegeben, das geplante Anschreiben derer, die schon in der Truppe gedient haben, könnte einen weit größeren Effekt auf die Reserve haben, die für die Landesverteidigung zentral, aber lange vernachlässigt worden ist. Ob sich aber, wie die FDP meint, das Personalproblem allein dadurch lösen lässt, erscheint doch fraglich. Schließlich sind Wehrdienstleistende die Reservisten von morgen.

Die niedrige Zielmarke liegt nicht nur an fehlenden Kapazitäten

Pistorius begründet seine niedrige Zielmarke mit den nicht mehr vorhandenen Ausbildungskapazitäten bei der Bundeswehr, die erst neu aufgebaut werden müssen. Das ist richtig, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Wäre dies der alleinige Grund, hätte er schon konkrete Zahlen nennen können, wie viele Rekruten die Truppe in den Jahren 2026, 2027 und 2028 ausbilden und einziehen könnte.

Der Minister hat seinen eigentlichen Plan noch nicht aufgegeben, mehr junge Männer notfalls auch gegen ihren Willen aus dem Kreis der Gemusterten einzuberufen, falls sich nicht genug Freiwillige melden. Tapfer verweist er darauf, dass dieser Punkt in den Gesetzesberatungen noch geklärt wird. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass die Ampelkoalition die Kraft dafür findet, ist gering.

Wer den Minister schon bittet, den Europawahlkampf nicht mit dem Thema zu belasten, wird im Jahr der Bundestagswahl mutmaßlich noch weniger offen dafür sein. Im Augenblick erscheint schwer vorstellbar, dass Sozialdemokraten, Grüne und Liberale im Frühjahr die Hand heben für eine Wiederkehr der Wehrpflicht, um die Bundeswehr „kriegstüchtig“ zu machen - auch wenn es sich nur um eine „Auswahlwehrpflicht“ für einen kleineren Teil der Gemusterten handeln würde.

Vermutlich muss die nächste Regierung ran

Die nächste Regierungskoalition dürfte sich nicht nur dieser Sache annehmen müssen. Auch die Frage, ob eine Wehr- oder Dienstpflicht inzwischen nicht eigentlich geschlechtsneutral sein müsste, wird sich neu stellen - dann möglicherweise unter noch größerem Zeitdruck.

Wer die russische Bedrohung für real hält, kann nur zum Schluss kommen, dass die Ampel den Verteidigungsminister zu sehr ausgebremst und nicht das machen lassen hat, was der Lage angemessen wäre. Wer die ganze Diskussion für reine Panikmache hält, wird froh sein, dass Pistorius beim Kanzler, bei seiner SPD, aber auch bei Grünen und Liberalen auf Granit gebissen hat.

Was aber, wenn Kremlchef Wladimir Putin eben doch solche Absichten hegt? Soll man einem Mann vertrauen, der Angriffspläne zwar gerade als „Bullshit“ abgetan hat, einen Überfall auf die Ukraine im Vorfeld aber genauso ins Reich der Fantasie verwiesen hat. Sollte man im Zweifelsfall nicht lieber zu viel machen als zu wenig?

Psychologische Wirkung nicht zu unterschätzen

Stand jetzt ist es zu wenig. Was Pistorius jetzt vorgeschlagen hat, wird daher nur ein erster Schritt sein auf dem Weg zu einer vollständig verteidigungsbereiten Armee, die Deutschland im Augenblick nicht hat.

Unterschätzen sollte diesen ersten kleinen Schritt, der nicht wenigen in der Koalition schon zu groß ist, aber auch niemand. Die Erfassung potenzieller Wehrdienstleistender per Online-Fragebogen ist überhaupt erst die Voraussetzung für weitere Schritte.

Psychologisch ist das auch nicht ohne. Schließlich müssten sich alle jungen Männer nach der Umsetzung wieder mit der Frage befassen, ob sie dieses Land notfalls mit Waffengewalt zu verteidigen bereit sind. Allein in dieser Überlegung steckt deutlich mehr von des Kanzlers „Zeitenwende“ als in der Verabschiedung eines neuen Beschaffungsbeschleunigsgesetzes.

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