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Regierungsbildung unter neuen Vorzeichen: Friedrich Merz, der schmerzfreie Pragmatiker
Jetzt kann es ganz schnell gehen mit einer Koalition aus Union und SPD. Grund ist die neue Weltlage – und ein neuer CDU-Chef.

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Langweilig wird Politik eigentlich nie: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Natürlich sprach schon vor der Bundestagswahl manches dafür, dass es auf ein schwarz-rotes Bündnis hinauslaufen könnte – der Fokus lag freilich darauf, dass CSU-Chef Markus Söder sein Veto gegen ein Zusammengehen der Union mit den Grünen einlegen könnte.
Ein langer Koalitionsverhandlungsmarathon wurde befürchtet, ein Deutschland am Rande der Unregierbarkeit. Würden Sozialdemokraten überhaupt mit Friedrich Merz vertrauensvoll reden können, dem vermeintlichen Steigbügelhalter der AfD, der sehenden Auges eine Mehrheit mit ihr herstellte?
Wie sollte es überhaupt Kompromisse geben, da die CDU überfällige Investitionen in die Infrastruktur und Sicherheit nur übers Sparen und Wirtschaftswachstum per Deregulierung finanzieren wollte, während die SPD mit Merz‘ Migrationskurs das Ende Europas nahen sah?
Nun ist alles anders gekommen. Im Rekordtempo soll nun eine neue Regierung gebildet werden, weil diese neue Welt ohne jede transatlantische Gewissheit nicht auf Deutschland wartet. Spätestens das amerikanisch-ukrainische Zerwürfnis vom Freitagabend dürfte den Letzten klargemacht haben, dass Europa künftig seine Sicherheit gewährleisten muss – und dafür von Donald Trumps Amerika bestenfalls eine Übergangsfrist gewährt bekommt oder eben nicht.
Grundsatzeinigung bis Mittwoch anvisiert
Anders als bei Europas erstem Krisengipfel am Sonntag muss Deutschland beim nächsten am Donnerstag in Brüssel sprechfähig sein. Merz will daher Noch-Kanzler Olaf Scholz schon am Mittwoch das zentrale Sondierungsergebnis von Union und SPD auf den Weg geben. Es läuft auf eine Schuldenaufnahme im hohen dreistelligen Milliardenbereich hinaus – für die Verteidigung im weitesten Sinne und die Modernisierung der Infrastruktur. Die Bundesrepublik steht, nicht nur finanziell, vor einer der größten Aufgaben seit der Wiedervereinigung.
Eine neue Lage ebenso wie ein neuer Merz machen das möglich. Mit nahezu schmerzfreiem Pragmatismus verfolgt er das Ziel der Regierungsbildung, den größten Knackpunkt der Kreditfinanzierung räumte der CDU-Chef andeutungsweise schon an Tag 1 nach der Wahl aus dem Weg. Ganz nach dem Motto des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer („Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“) tut sein mutmaßlich neunter Nachfolger das, was nun getan werden muss, und legt das Wahlprogramm der Union beiseite.
In den Augen des Publikums der gesellschaftlichen Mitte kann Merz damit möglicherweise sein Ansehen erhöhen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass er sich diesem unideologisch-pragmatischen Ansatz in den Monaten vor der Wahl verweigert hat. Da stellte sich die große Verteidigungsaufgabe noch nicht wie seit Freitag in dieser existenziellen Dringlichkeit, da war sie aber sehr wohl. Der Ampel und ihrem Überbleibsel half Merz damals nicht, eher wurde sie in oberlehrerhaftem Ton belehrt, nicht die richtigen Prioritäten zu setzen.
Merz ist in der finanzpolitischen Realität angekommen
Sei’s drum! Ein in der finanzpolitischen Realität angekommener Merz ist eine gute Sache. Selbst wenn, um das eigene Wendemanöver zu kaschieren, die Schuldenbremse zur Ehrenrettung der Form halber möglicherweise nicht angetastet werden wird: Schulden sind Schulden, auch wenn sie am Ende „Sondervermögen“ heißen sollten – und bitter nötig, um mehr sicherheitspolitische Unabhängigkeit Deutschlands und Europas von den USA zu erreichen.
Was Merz mit seiner urdemokratischen Kompromissbereitschaft in der Mitte erreichen kann, kann er womöglich rechts davon einbüßen. Mit der Rückkehr des marktliberalen Wirtschaftsmanns auf die politische Bühne und nicht zuletzt mit seiner Kanzlerschaft verbanden viele traditionelle Kräfte in der Union eine neue Ära des Konservatismus, möglicherweise sogar in Anlehnung an die Entwicklung in den USA hin zu einer möglichst libertären Staatsferne.
Hier ist Enttäuschung programmiert, auch wenn es um Merz’ angekündigte Kompromisslosigkeit in der Migrationspolitik oder harte Sparmaßnahmen beim Bürgergeld geht – wenngleich der Kanzler in spe am Montag trotz neuer Schulden tapfer den weiterhin bestehenden „Konsolidierungsbedarf“ hervorhob. Der neue – wenn man so will: linkere – Merz wird auch der AfD noch mehr Angriffsfläche bieten. Aber er hat nun als Kanzler auch eine bessere Chance, die Probleme anzugehen, die sie stark gemacht haben.
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