Reise zu Putin nach Russland: Erdogans neue Rolle – plötzlich Friedensstifter?
Der türkische Präsident reist an diesem Freitag zu Putin. Er will nach dem Getreideabkommen die Chancen für einen Waffenstillstand in der Ukraine ausloten.
Der erste Getreide-Frachter aus der Ukraine seit Kriegsbeginn hat am Mittwoch den Bosporus in Richtung Libanon passiert: ein Erfolg der Türkei, die das Istanbuler Getreide-Abkommen ausgehandelt hat. Weitere Schiffe sollen folgen, doch Präsident Recep Tayyip Erdogan richtet seinen Blick bereits auf höhere Ziele.
[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]
An diesem Freitag reist er als erster Staatschef eines Nato-Landes seit Kriegsbeginn zu Kremlchef Wladimir Putin nach Russland. Als Vermittler im Ukraine-Krieg will Erdogan Möglichkeiten für einen Waffenstillstand ausloten.
Außenpolitische Erfolge kann Erdogan gut gebrauchen. Zehn Monate vor den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen steht seine Regierung wegen der Wirtschaftskrise in der Türkei mit dem Rücken an der Wand.
Mit seiner zentralen Rolle bei den Bemühungen um eine Entschärfung des Ukraine-Konfliktes kann sich der 68-jährige Erdogan den Wählern als Staatsmann von Weltrang empfehlen.
Das Inkrafttreten des Istanbuler Getreide-Abkommens hat Erdogans internationales Prestige gesteigert. Deshalb traut sich der Präsident jetzt zu, Putin zu einem Waffenstillstand mit Kiew zu bewegen. Er arbeitet seit Jahren eng mit dem russischen Präsidenten zusammen.
Dabei ist der Präsident kein geborener Außenpolitiker. Er spricht keine Fremdsprachen und hält nicht viel von diplomatischer Zurückhaltung. Als er sich beim Nato-Gipfel von Madrid im Juni mit den Regierungschefs von Finnland und Schweden zu einem Gespräch über die türkische Veto-Drohung gegen den Nato-Beitritt der beiden Länder zusammensetzte, eröffnete er das Treffen mit der Bemerkung: „Eigentlich will ich nicht mit Ihnen reden.“
Im vergangenen Jahr drohte Erdogan mit dem Rauswurf von zehn westlichen Botschaftern, über die er sich geärgert hatte.
Keine türkischen Drohnen für Russland
Im Ukraine-Konflikt fährt Erdogan einen Mittelkurs. Die Türkei liefert Kampfdrohnen an die Ukraine, beteiligt sich aber nicht an westlichen Sanktionen gegen Russland. Putin hat sich damit arrangiert.
Bei seinem jüngsten Treffen mit Erdogan vorige Woche in Teheran fragte der Kremlchef sogar, ob auch Russland türkische Drohnen haben dürfe, wie Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin im Fernsehsender Kanal 7 berichtete.
Putin habe seine Bitte „halb im Scherz“ vorgetragen, sagte Kalin. Erdogan habe mit einem Lächeln geantwortet, doch Russland werde keine Drohnen bekommen.
Mehr zum Ukraine-Krieg auf Tagesspiegel Plus:
- Raketen, leere Regale, Razzien: Vier Ukrainer erzählen von ihrem Alltag im Krieg
- Taktisches Ringen um die Südukraine: „Der Kampf um Cherson könnte zum Wendepunkt im Ukraine-Krieg werden“
- „Ich schäme mich nicht, Russe zu sein“: Die TikTok-Propaganda für den russischen Angriffskrieg
- Monate vor der Invasion der Ukraine: Als Russland seine Propaganda in den Kriegsmodus schaltete
- Vom Westen verkrüppelt?: Sieben Auswirkungen der Sanktionen auf die russische Wirtschaft
Kalin kennt solche Anekdoten, weil er bei allen wichtigen Treffen Erdogans mit ausländischen Staatschefs dabei ist. Der 50-jährige ist mehr als Erdogans Präsidialamtssprecher und Chefberater. Kalin, der perfekt Englisch spricht, ist der außenpolitische Profi und geschliffene Diplomat unter Erdogans engsten Mitarbeitern.
Mindestens ebenso wichtig wie Kalin ist Geheimdienstchef Hakan Fidan. Der 54-Jährige fand nach einem Bericht der gewöhnlich gut informierten Nachrichten-Website „Middle East Eye“ in einer Kaffeepause am Rande des Nato-Gipfels von Madrid den Kompromiss, der Finnland und Schweden den Weg ins Bündnis öffnete.
Fidan ist seit elf Jahren im Amt und schweigt in der Öffentlichkeit meistens. Bis heute ist unbekannt, warum der Geheimdienstchef in den Stunden vor dem Putschversuch von 2016 mit dem damaligen Generalstabschef Hulusi Akar konferierte.
Der Dritte im Bunde
Akar ist heute Verteidigungsminister und der Dritte im Bunde der engen Erdogan-Berater. Der 70-jährige ehemalige Berufssoldat ist seit 2018 Minister und organisierte Militärinterventionen der Türkei in Syrien, im Irak und in Libyen. Er führte auch die Verhandlungen mit Russland und der Ukraine über den Istanbuler Getreide-Deal.
Beim Treffen mit Putin im Schwarzmeer-Badeort Sotschi wollen Erdogan, Kalin, Fidan und Akar über Syrien sprechen, wo die Türkei einen neuen Einmarsch plant. Vor allem aber wollen sie herausfinden, ob der Schwung des Getreide-Abkommens für einen Waffenstillstand genutzt werden kann.
Unterstützung erhält Erdogan vom deutschen Alt-Kanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder. Der Istanbuler Getreide-Deal sei ein Erfolg, den man möglicherweise zu einem Waffenstillstand ausbauen könne, sagte Schröder.
Allerdings sind die türkischen Möglichkeiten begrenzt. Erdogan ist für den international isolierten Putin ein wichtiger Partner, doch Russland achtet auf die eigenen Interessen.
Möglicherweise überschätzt Erdogan die Bedeutung seines Landes und seinen persönlichen Einfluss. Um im Ukraine-Konflikt etwas zu bewegen, müsste sich die Supermacht USA einschalten, sagt auch Schröder: „Ohne ein Ja aus Washington wird es nicht gehen.“
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid:
- showPaywallPiano:
- false