
© dpa/JEAN-CHRISTOPHE VERHAEGEN
Ruckel-Rede statt Ruck-Rede: Der Kanzler appelliert, aber er bewegt nicht
Eine „neue Einheit“ will Kanzler Merz, eine Kraftanstrengung aller, damit es nicht weiter bergab geht in Deutschland. Doch was Mut machen sollte, bleibt eine sorgenvolle Aufforderung.

Stand:
Der 3. Oktober war noch nie der Tag der großen Emotion in Deutschland. Es ist nicht der Jahrestag des Mauerfalls, der Tag, an dem einst Mut über Angst gewonnen hat. Aus dem der Aufbruch spricht, die Freude über die aus eigener Kraft erlangte Freiheit. Dabei wird es zumindest nach diesem 3. Oktober bleiben.
Viel hatte sich Friedrich Merz (CDU) vorgenommen für seine erste Rede als Bundeskanzler zum Tag der Deutschen Einheit. Er werde eine Ruck-Rede halten in der Tradition von Bundespräsident Roman Herzog, hieß es Tage zuvor aus seinem Umfeld. Er selbst verbreitete über die sozialen Netzwerke ein Foto, das ihn beim „letzten Schliff“ zeigt, gebeugt über das Redemanuskript.
Die Erwartungen waren entsprechend groß. Sie wurden erfüllt – doch nicht durch Merz. Eine eindrückliche, emotionale, aufrüttelnde Rede hielt beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Saarbrücken der Gast: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.
Er traf den Ton, erzeugte eine Stimmung, strahlte Entschlossenheit aus, Leidenschaft, Lebendigkeit und Mut. Das mag dem Franzosen leichter fallen als dem Sauerländer Merz. Doch daran lag es nicht, dass Merz Rede ruckelig blieb. Dass sie letztlich bei dem verharrte, was Merz Kanzlerschaft bislang durchzieht: Viele durchaus richtige Erkenntnisse, gegossen in viele Vorhaben und Versprechen. Wenig, was fertig wird.
Und selbst das, was gelingt, kommt nicht an bei den Bürgern. Die Stimmung ist schlecht, die Unzufriedenheit mit Merz’ Regierung groß, zuletzt sogar größer als mit der Ampel. Die AfD liegt teils gleichauf mit der Union, die Beliebtheitswerte des Kanzlers sind mau.
Kann Merz es schaffen, als Stimmungsaufheller zu wirken? Das Land zu überzeugen, sich dem Wandel zuzuwenden? Mehr Verantwortung zu übernehmen für Demokratie und Freiheit?
Der Weg, für den er sich entschlossen hat, auch an diesem Freitag in Saarbrücken, setzt vor allem auf Logik – und er erzeugt Sorge, wo er doch eigentlich Mut machen will: Wenn wir nichts ändern, wird es noch schlimmer. Das ist Merz’ Botschaft. Ohne „Aufbruch“, ohne eine „neue Einheit“ und eine „Kraftanstrengung aller“ würden Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und das Sozialsystem sich nicht bewahren lassen.
Wer geht voran? Merz belässt es bei „wir alle“
Der „gemeinsame Aufbruch“, verkündet der Kanzler, werde dann auch die Spaltung im Land überwinden. Aus einem Grundkonsens könne Deutschland neue Stärke ziehen. Doch der Weg dorthin bleibt vage. Wer geht voran? Wer kann und muss erst sich selbst und dann vieles andere ändern, Verantwortung übernehmen? Merz belässt es bei „wir alle“.
Dabei ist es seine Bundesregierung, die vorangehen, vorankommen, es besser machen muss. Wenn diese aber tatsächlich meint, das Hauptproblem sei die schlechte Laune, könnte der Kanzler mit seiner Rede unfreiwillig aufgedeckt haben: Es ist nicht allein mangelnde Zuversicht, die dafür sorgt, dass die Bürgerinnen und Bürger unzufrieden sind, sondern auch sinkende Glaubwürdigkeit.
Merz will Deutschland wieder an die Spitze bringen. Doch kann er das? Und wie soll es gelingen? Bis auf Bürokratieabbau, Digitalisierung, die zuletzt auf den Weg gebrachte Modernisierungsagenda, bleibt Merz auch jetzt die konkreten Ansagen schuldig.
Schief wirkt da, dass er manches doch genau benennt: Die „irreguläre Migration“ als Ursache für die Spaltung des Landes. Dies habe „Gräben aufgerissen“. Die Umwälzungen der digitalen Revolution als einen Grund für Verunsicherung im Land und die sich neu ordnende Weltwirtschaft für die Schwäche der deutschen Wirtschaft. Dabei klingt durch: Dafür kann ich, können wir nichts.
Zusammengenommen mit der vorhersehbaren Aufforderung des Kanzlers, alle müssten sich jetzt mehr anstrengen, wäre es verwunderlich, der Appell würde nicht bleiben, was er ist: ein Appell. Kein Ruck. Merz hätte an diesem Tag der Deutschen Einheit unter Beweis stellen können, warum das Land ihm den Aufbruch zutrauen und ihm dabei folgen sollte. Doch dafür hätte er ein Gefühl erzeugen müssen. Der Kanzler wünscht sich Bewegung. Doch er bewegt nicht.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid:
- false