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Vo 100 Jahren begann die mörderische Vertreibung und Verfolgung der Armenier. Es war ein Genozid, sagen nicht nur Historiker. Doch der türkische Präsident Erdogan will das Vorgehen der osmanischen Regierung im Jahr 1915 nicht verurteilen.

© Getty Images

Recep Tayyip Erdogan: Sein Kampf gegen das Wort Völkermord

Die Türkei will die Anerkennung der Massaker an den Armeniern als Völkermord verhindern. Das Kabinett in Ankara setzt dabei auf die Überzeugungskraft seiner Diplomaten. Die präsentieren ihre Sicht auf die Geschichte – und drohen mit politischen Konsequenzen.

Vor der türkischen Botschaft in Washington wurde kürzlich ein Info-Stand samt Transparent und Zelt aufgebaut. Neben der Aufschrift „TürkischArmenische Versöhnung“ prangte ein Porträt von Präsident Barack Obama. Ein in den USA tätiger türkischer Verband hatte den Stand errichtet, um den Gehweg vor der Botschaft nicht möglichen armenischen Demonstranten zu überlassen.

Das Straßenpflaster vor der diplomatischen Vertretung war somit Schauplatz eines Kampfes um Einflussnahme, der in diesen Tagen seinen Höhepunkt erlebt. Vor dem hundertsten Jahrestag der Massaker an den Armeniern, die am 24. April 1915 begannen, setzt Ankara alle Hebel in Bewegung, um eine Anerkennung des Völkermordes durch die USA und andere Staaten zu verhindern. Nach den Äußerungen von Papst Franziskus – er hatte die Armenier als Opfer des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts bezeichnet –, und der Resolution des EU-Parlamentes, in der die Türkei zur Anerkennung des Genozids aufgerufen wurde, sind diese Bemühungen noch einmal verstärkt worden. Sollte Obama in seiner traditionellen Gedenkbotschaft zum 24. April das „G-Wort“ benutzen, wäre dies für die Türkei eine politische Katastrophe.

Vor dem Jahrestag sind türkische Diplomaten in aller Welt darauf erpicht, die Regierungen ihrer jeweiligen Gastländer vom Standpunkt Ankaras zu überzeugen. Zuweilen geht das gründlich schief. So ließ sich der türkische Botschafter beim Vatikan, Mehmet Pacaci, im März in der Presse mit den Worten zitieren, er habe durch Interventionen beim Heiligen Stuhl bewirkt, dass der Papst eine Einladung zu einem Gottesdienst in der armenischen Hauptstadt Eriwan am 24. April ausschlug. Zudem werde der Papst in seinen Kommentaren zum Jahrestag wohl das gefürchtete Wort vom Völkermord vermeiden. Ankara war beruhigt – und dann völlig konsterniert, als Franziskus doch vom Genozid sprach.

Ohnehin wird in der Türkei häufig kritisiert, dass die eigene Diplomatie den Bemühungen der Armenier um internationale Anerkennung des Völkermordes kaum etwas entgegenzusetzen habe. Häufig verweisen die Kritiker dabei auf das Fehlen einer Strategie für die Öffentlichkeitsarbeit. Obwohl der anstehende hundertste Jahrestag der Massaker allen bekannt sei, habe Ankara im Vorfeld kaum etwas unternommen, kritisierte der außenpolitische Kolumnist Sami Kohen in der Zeitung „Milliyet“. Das Internetportal „Turktime“ beklagte, beim Thema Armenier tobe ein „klarer Krieg der Lobbys – und die Türkei ist dabei, diesen Krieg zu verlieren“. Allerdings haben es die türkischen Diplomaten nicht leicht. Sie müssen sich nicht nur gegen armenische Aktivisten behaupten, sondern auch gegen einen weitgehenden Konsens der internationalen Forschung, wonach es sich bei den Verbrechen von 1915 um einen Genozid handelte.

Unterstützt werden Ankaras Bemühungen von einigen Verbänden. So ist ATAA, ein Zusammenschluss türkischer Vereine in den USA, unter dem Motto „Lass die Geschichte entscheiden“ in der Armenier-Frage sehr aktiv. ATAA errichtete auch den Stand vor der türkischen Botschaft in Washington.

Im „Krieg der Lobbys“ gibt es aber eben auch weltbekannte Promis, die ihre Popularität nutzen, um eine Anerkennung des Völkermordes zu fordern. So reiste US-Fernsehstar Kim Kardashian kürzlich in das Land ihrer armenischen Vorfahren, um für das Anliegen zu werben. Auch die US-Sängerin Cher – die mit bürgerlichem Namen Cherilyn Sarkisian heißt und einen armenischstämmigen Vater hat – rief die Türkei auf, den Völkermord beim Namen zu nennen.

Da Ankara in seinen Bemühungen, andere Länder von ihrem Standpunkt zu überzeugen, nicht auf Stars zurückgreifen kann, verlegt sich die Türkei auf andere Mittel. In westlichen Hauptstädten werden Abordnungen hochrangiger Diplomaten vorstellig und sprechen zum Beispiel über eine ungünstige Entwicklung der bilateralen Beziehungen, die in dem Fall drohe, dass der armenische Völkermord anerkannt werden sollte. Auch in Berlin war das schon lange vor dem anstehenden Jahrestag der Fall.

Zudem werden ausländische Diplomaten in Ankara hin und wieder zum Gespräch ins türkische Außenamt gebeten. Dort wird ihnen dann die Meinung der türkischen Regierung zur Frage der Armenier-Massaker eingehend dargelegt. Die Bemühungen, die Anerkennung des Genozids durch die internationale Staatengemeinschaft zu verhindern, seien im Alltag spürbar, sagt ein westlicher Diplomat.

Ankara bestreitet, dass der Tod von mehreren hunderttausend Armeniern bei Deportationen, Massakern und Todesmärschen ein geplanter Genozid war. Laut der offiziellen türkischen Version der Ereignisse entschloss sich die damalige osmanische Reichsregierung zu einer Umsiedlung der Armenier, weil viele Armenier mit dem Kriegsgegner Russland gemeinsame Sache machten. Zudem seien in den Kriegswirren auch viele muslimische Türken ums Leben gekommen.

Präsident Recep Tayyip Erdogan und andere Spitzenpolitiker verweisen zudem immer wieder auf den Vorschlag, die damaligen Ereignisse von einer unabhängigen Historikerkommission untersuchen zu lassen. Die Bewertung der Geschichte sei nicht Sache von Politikern in Regierungen und Parlamenten, lautet ein zentraler Satz der türkischen Haltung. Erdogan betonte vor Kurzem ausdrücklich, man sei bereit, sich dem Urteil der vorgeschlagenen Historikerkommission zu unterwerfen.

Doch die türkische Sicht auf die Historie ist nicht einmal das Wichtigste, was Diplomaten bei den Partnern ihres Landes in die Waagschale werfen. Schwerer wiegt die Politik. Nicht von ungefähr verweisen Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und andere Regierungsvertreter auf einen möglichen Ausbau der Beziehungen zwischen der Türkei und dem Nachbarn Armenien. Bisher gibt es zwischen beiden Ländern keine diplomatischen Beziehungen, die gemeinsame Grenze ist geschlossen. Den USA und anderen westlichen Staaten wäre eine gute Zusammenarbeit beider Staaten im südlichen Kaukasus sehr recht – die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton unterstützte deshalb 2009 persönlich türkisch-armenische Gespräche über eine Normalisierung der Beziehungen. Der Versuch scheiterte trotz aller Bemühungen.

Nicht nur wegen der Nähe zum Kaukasus ist die Türkei geostrategisch bedeutsam. Sie grenzt als wichtiger Verbündeter des Westens und Nato-Mitglied auch unmittelbar an die Krisenregion Nahost an. Die USA und Europa brauchen die Mitarbeit der Türkei bei der Bekämpfung der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS).

Ein einigermaßen gutes Verhältnis zu Ankara ist für den Westen also ein wichtiges Anliegen. Dies ist der Grund dafür, dass sich die Bundesregierung bisher sehr vorsichtig zeigte, wenn es um den Begriff „Völkermord“ geht. Auch Obama hat in seinen Botschaften zum 24. April das Wort vom Genozid vermieden.

Doch trotz aller Warnungen der Türkei, man werde im Falle einer Anerkennung des Völkermordes Konsequenzen ziehen, scheint es Ankara am Willen zu mangeln, konkret etwas zu unternehmen. „Turktime“ fasste das mal so zusammen: „Es gibt Schnellschuss-Reaktionen, Äußerungen, mit denen vor den Bürgern der starke Mann markiert wird. Dann wird der Botschafter aus dem betroffenen Land für ein paar Monate zurückgezogen. Anschließend wird bis zum nächsten April alles vergessen, so als wäre nichts geschehen.“

Ganz unrecht hat „Turktime“ mit dieser Einschätzung nicht. So entwickeln sich die Beziehungen zwischen der Türkei und Frankreich recht gut, obwohl Paris den Genozid 2001 per Gesetz anerkannte und Ankara damals mit schweren Folgen drohte. Mit Ausfuhren im Wert von 6,5 Milliarden Dollar lag Frankreich 2014 auf Platz fünf der wichtigsten Export-Handelspartner. Die Importe der Türkei aus Frankreich bewegen sich auf ähnlich hohem Niveau. Nicht gerade ein Anzeichen für schlechte Beziehungen.

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