
© dpa/Katharina Kausche
SPD trifft sich zur Krisensitzung: Klingbeil kritisiert fehlende Führung und Verantwortung in der Union
Drei Richter hätten am Freitag für das Bundesverfassungsgericht berufen werden sollen. Dass das nun nicht geklappt hat, sorgt in der SPD für Frust. Noch heute will sie beraten, wie es weitergehen soll.
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Nach der geplatzten Wahl von Verfassungsrichtern herrscht in der SPD Krisenstimmung: Wie der Tagesspiegel erfahren hat, will sich heute Abend der Parteivorstand und die komplette Bundestagsfraktion virtuell zusammenzuschalten, um zu besprechen, wie man mit der politischen Lage umgeht. Ein weiteres Treffen mit der gleichen Besetzung soll auch am Montagabend stattfinden.
Kaweh Mansoori, Mitglied des SPD-Parteivorstands und stellvertretender Ministerpräsident in Hessen, sagte dem Tagesspiegel: „Das Maß an Verantwortungslosigkeit gegenüber unseren demokratischen Institutionen und die Rücksichtslosigkeit gegenüber einer hochverdienten und angesehenen Juristin seitens der Union ist inakzeptabel.“
Zuvor hatte bereits SPD-Chef Lars Klingbeil mit deutlichen Worten seinen Unmut geäußert. „Führung und Verantwortung sind nichts für Sonntagsreden. Sondern wenn hier strittige Abstimmungen sind, dann muss es Führung und Verantwortung auch geben“, sagte der Bundesfinanzminister in einer Haushaltsrede im Bundestag.
Klingbeil fügte hinzu, er wolle eine „sehr klare Erwartung formulieren: Wenn wir dieses Land durch schwierige Zeiten durchmanövrieren wollen, (...) dann heißt das auch, dass man manch schwierige Entscheidung mittragen muss“. Beim Eklat um die Richterwahl sei der traditionelle breite Konsens der demokratischen Mitte im Parlament gebrochen worden.
Wegen massiven Widerstands in der Unionsfraktion gegen die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf wurden die Abstimmungen über die insgesamt drei Vorschläge für das Bundesverfassungsgericht kurzfristig von der Tagesordnung genommen. In der Unionsfraktion gab es Vorbehalte gegen die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf, unter anderem wegen ihrer aus Sicht mancher Abgeordneter zu liberalen Haltung zu Abtreibungen.
Klingbeil sagte, die Gleichheit der Geschlechter und das Selbstbestimmungsrecht der Frauen hätten in Deutschland zu Recht Verfassungsrang. „Das zu schützen ist übrigens Aufgabe von Richterinnen und Richtern, erst recht am Bundesverfassungsgericht.“
Es habe in Deutschland immer Kontroversen zum Paragraphen 218 und zu Fragen der Abtreibung gegeben. Die SPD habe eine klare Position. „Aber wir respektieren andere Meinungen.“ Das Land gehe „kaputt“, wenn politische Debatten immer nach dem Motto geführt würden: Wer nicht zu 100 Prozent der eigenen Meinung sei, sei ein Gegner, so der SPD-Chef.
„Wenn eine Richterin eine kritische Position zu 218 hat, dann ist das mehr als legitim in unserem Land. Das Bundesverfassungsgericht ist eine der wichtigsten Institutionen unseres Landes, und es lebt von Unabhängigkeit und von Vertrauen“, sagte Klingbeil. Es habe im Bundestag immer einen breiten Konsens der demokratischen Mitte gegeben zur Ernennung von Richterinnen und Richtern. „Und das ist heute nicht passiert.“
Wiese spricht von „Hetzjagd“ gegen Brosius-Gersdorf
Noch drastischer formulierte es der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Dirk Wiese. „Es ist kein guter Tag für die Demokratie in diesem Land“, sagte Wiese am Freitag im Bundestag. Er sprach von einer Hetzjagd gegen Frauke Brosius-Gersdorf.
Wiese machte seine Unzufriedenheit mit dem Vorgehen der Union deutlich. Denn am Montag habe es im Richterwahlausschuss noch eine Mehrheit für alle drei Kandidaten gegeben. Am Freitagmorgen hatte die Union dann vorgeschlagen, die Abstimmung über Brosius-Gersdorf wegen angeblicher Plagiatsverdachtes zu verschieben.
Er macht Unionsfraktionschef Jens Spahn und Kanzler Friedrich Merz (beide CDU) direkt für die geplatzte Richterwahl verantwortlich. „Was wir hier heute erlebt haben und in den letzten Tagen, ist ein Hinweis auf fehlende Durchsetzungskraft in der eigenen Fraktion von Jens Spahn, aber auch von Friedrich Merz“, sagte Wiese, der Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion ist.
„Was wir an dem heutigen Tag zudem erleben, ist eine Beschädigung des Bundesverfassungsgerichtes, die ich mir in dieser Form nicht hätte vorstellen können“, sagte Wiese.
Weiter sagte Wiese: „Manches kommt zeitversetzt über den Atlantik, aber dass wir hier Debatten haben wie beim Supreme Court, wie bei der Besetzung der Richterstellen in Polen, dass das in so einer Art und Weise auch heute hier einzieht, hätte ich mir nicht träumen lassen.“
Er kritisierte, es gebe Beeinflussung „von Rechtsauslegern, rechten Nachrichtenportalen und auch Vertretern der katholischen Kirche, deren Einmischung ich für absolut inakzeptabel halte“.
Drohungen gegen Kandidatin
Wiese mache deutlich, dass die SPD nicht auf Distanz zu Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf geht – im Gegenteil. „Ich gehe davon aus, dass sich die Plagiatsvorwürfe, so wie ich es jetzt wahrnehme, nicht bestätigen werden. Das war ja zum Schluss der Grund der Union, diesem Wahlvorschlag heute nicht zuzustimmen, beziehungsweise sich zu enthalten“, sagte er.
In den vergangenen Tagen habe es für Brosius-Gersdorf große Belastungen gegeben. „Eine hoch angesehene Staatsrechtlerin wird verleumdet und kriegt Morddrohungen nach Hause. Gestern musste der Lehrstuhl an der Universität geräumt werden wegen der Bedrohungslage“, sagte Wiese. Das seien beispiellose Grenzüberschreitungen im Hinblick auf die Staatsrechtlerin, aber auch das Bundesverfassungsgericht als angesehenste Institution des Landes.
Wir halten an unseren Kandidatinnen fest. Ich erwarte, dass die Mehrheit steht.
Matthias Miersch, SPD-Fraktionschef
Auch SPD-Fraktionschef Matthias Miersch will weiter an Brosius-Gersdorf festhalten und schließt eine Lösung über einen Kompromisskandidaten mit der Union praktisch aus: „Für mich ist klar: Wir halten an unseren Kandidatinnen fest. Ich erwarte, dass die Mehrheit steht“, schrieb Miersch in einer persönlichen Erklärung zum Beginn der parlamentarischen Sommerpause.
Die gelte zumal, da Vorwürfe eines Plagiats von dem eigentlichen Verfasser nicht aufrechterhalten würden. Eine herausragende Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht mit einwandfreiem Werdegang und bester Qualifikation sei „Opfer einer beispiellosen Schmutzkampagne“ geworden, betonte Miersch und stellte sich damit vor die Jura-Professorin Frauke Brosius-Gersdorf.
„Der heutige Tag hätte sich nie so abspielen dürfen, gerade weil wir unsere Kandidatinnen mit der Unionsführung abgestimmt haben. Wir haben uns auf den gemeinsamen Vorschlag geeinigt“, schreibt Miersch. Entsprechend habe der gemeinsame Vorschlag am Montag die nötige Zweidrittelmehrheit im Richterwahlausschuss erhalten.
Es ist buchstäblich brandgefährlich.
Manja Schüle (SPD), Brandenburgs Wissenschaftsministerin
Brandenburgs Wissenschaftsministerin Manja Schüle (SPD) und frühere SPD-Bundestagsabgeordnete, schrieb bei Facebook: „Ich will den Erfolg der Großen Koalition im Bund. Deshalb behalte ich für mich, was ich als Staatsbürgerin von dem halte, was die Unionsfraktion heute im Bundestag abgeliefert hat.“ Sie nannte den Umgang mit der Juristin Brosius-Gersdorf „völlig inakzeptabel“.
Schüle warnte vor amerikanischen Verhältnissen. „Wir dürfen und müssen inhaltlich streiten, auch wenn wir in einer gemeinsamen Koalition sind. Aber es ist buchstäblich brandgefährlich, die wissenschaftliche Integrität einer hoch angesehenen Expertin anzuzweifeln, wenn einem politische Argumente fehlen.“
Die Grünen legen Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU) nun den Rückzug von seinem Amt nahe. Spahn habe es nicht geschafft, seine Fraktion hinter den auch von ihm mitgetragenen Vorschlag zur Berufung dreier Richterinnen und Richter zum Bundesverfassungsgericht zu bringen, sagte Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann in Berlin.
Die Fraktion „läuft ihm davon und auch dem Kanzler, und das ist nicht nur ein Ansehensverlust, das beschädigt ihn auch in seiner Autorität als Fraktionsvorsitzender so erheblich, dass ich mich frage, ob er sein Amt ausführen kann“, sagte die Grünen-Politikerin.
Sie sagte auch: „Dieser Tag heute ist ein Desaster für das Parlament, ist vor allen Dingen ein Desaster für Jens Spahn und Friedrich Merz und mit ihnen die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD.“ Der Richterwahlausschuss habe mit Zweidrittelmehrheit die drei Kandidatinnen und Kandidaten von Union und SPD gewählt und dem Plenum des Bundestags vorgelegt. Spahn habe auch zusammen mit SPD-Fraktionschef Matthias Miersch bei den Grünen für die drei Vorschläge geworben.
Haßelmann macht Spahn verantwortlich
Dass nun die größte Regierungsfraktion, nämlich die Union, einer einzelnen Kandidatin die Unterstützung entziehe, sei ein Vorgang, den man so noch nie erlebt habe, sagte Haßelmann. „Dafür trägt allen voran Jens Spahn die Verantwortung.“ Sie sprach von einem „absoluten Versagen“.
Die Art, wie hier eine Kandidatin verunglimpft wird, ist absolut indiskutabel.
Franziska Brantner, Grünen-Chefin
Grünen-Vorsitzende Franziska Brantner sagte: „Es ist erschütternd, wie leichtsinnig das Vertrauen in das höchste deutsche Gericht beschädigt wird. Die Art, wie hier eine Kandidatin verunglimpft wird, ist absolut indiskutabel.“ Auch Brantner sagte, hier zeige sich, „dass Jens Spahn entweder nicht fähig oder Willens ist, sein Amt als Fraktionsvorsitzender auszufüllen“.
AfD spricht von „Regierungskrise“
Die AfD sieht nach der Verschiebung der Wahl von den Verfassungsrichtern eine „Regierungskrise“. „Es zeigt sich einmal mehr, dass wir es hier mit einer instabilen Koalition zu tun haben“, sagte AfD-Fraktionschefin Alice Weidel. Zugleich zeigte sich Co-Fraktionschef Tino Chrupalla erleichtert, dass die Wahl vorerst nicht stattfand.
Union und SPD hätten Kandidaten aufgestellt, die nicht mehrheitsfähig gewesen seien, sagte Chrupalla. „Und deshalb ist es heute auch ein guter Tag, dass diese Wahlen in Gänze abgesetzt wurden.“ Die AfD wünsche sich, dass nicht dieselben Kandidaten noch einmal aufgestellt würden, vor allen Dingen nicht jene der SPD, fügte er hinzu.
Linke bezichtigt Union der Annäherung an AfD
Die Linke wiederum wirft der Union eine Annäherung an die AfD vor. „Wie die Union die von ihrer Koalitionspartnerin vorgeschlagene Kandidatin attackiert und diskreditiert, ist unwürdig“, erklärte Linken-Fraktionschefin Heidi Reichinnek schriftlich. „In trauter Einigkeit mit Rechtspopulisten und Rechtsextremisten hat die Union eine Kampagne gefahren, die nicht weniger als skandalös ist.“
In einem Statement im Bundestag ergänzte Reichinnek, Unionsfraktionschef Jens Spahn habe für den Richtervorschlag der Union bewusst Stimmen der AfD in Kauf genommen. „Für mich zeichnet sich am Horizont auch nach heute immer deutlicher eine blau-schwarze Koalition ab“, sagte Reichinnek.
Die Regierungsfraktionen Union und SPD haben im Bundestag beantragt, alle am Freitag geplanten Wahlen für Richter beim Bundesverfassungsgericht abzusetzen. Dies teilte Bundestagsvizepräsidentin Josephine Ortleb (SPD) am Freitag mit. Auch die Grünen verlangten demnach in einem eigenen Antrag, die Richterwahlen von der Tagesordnung zu nehmen. Zuvor war die Sitzung mehr als eine Stunde unterbrochen. (Tsp mit dpa, AFP, Reuters)
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