zum Hauptinhalt
Kanzler Friedrich Merz und Finanzminister Lars Klingbeil am Freitag im Bundestag.

© REUTERS/NADJA WOHLLEBEN

Koalition vertagt Richterwahl: Wie es zur Absage der Abstimmung kam

Die Union hat sich durchgesetzt: Die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf wird heute nicht zur Verfassungsrichterin gewählt. Die Sozialdemokraten sind fassungslos. Kritik kommt auch von Juristen.

Die Unionsfraktion im Bundestag hat sich erfolgreich bei dem Vorhaben durchgesetzt, die Wahl der Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf für das Bundesverfassungsgericht von der Tagesordnung zu streichen. Das hat der Bundestag per Abstimmung beschlossen.

Brosius-Gersdorf war von der SPD nominiert worden und sollte am Freitagmittag zusammen mit zwei weiteren Kandidaten für Karlsruhe gewählt werden. Dazu wird es nun nicht mehr kommen.

Die SPD hält trotz des Widerstands aus der Union an ihrem Personalvorschlag fest, ist aus Kreisen der Fraktion zu hören.

Vorbehalte wegen Brosius-Gersdorfs Position zu Abtreibung

Am Montag hatte der Wahlausschuss des Bundestags alle drei Kandidaten noch mit der nötigen Zweidrittelmehrheit bestätigt und somit die Wahl an diesem Freitag ermöglicht. Innerhalb der Union hatte es jedoch seit Tagen wachsende Vorbehalte gegen Brosius-Gersdorf gegeben, vor allem wegen ihrer Positionen zur Abtreibung.

Als Mitglied der Kommission zu einer möglichen Reform des Schwangerschaftsabbruchs unter der letzten Bundesregierung hatte Brosius-Gersdorf sich dafür ausgesprochen, die Menschenwürde „erst für den Menschen ab Geburt“ gelten zu lassen. 

Viele Abgeordnete von CDU und CSU berichteten, dass sie Hunderte Beschwerde-Mails aus ihren Wahlkreisen erhalten hätten. Doch bis zuletzt hatte die Fraktionsspitze der Union an der gemeinsamen Wahl festgehalten.

Wir rufen die SPD an.

Bundeskanzler Friedrich Merz entschied am frühen Morgen den Kurswechsel.

Noch in einer vorgelagerten Sitzung des Parlamentskreises Mittelstand (PKM), dem etwa zwei Drittel aller Unionsabgeordneten angehören, hatte Fraktionschef Jens Spahn für den mit dem Koalitionspartner ausgehandelten Kompromiss geworben. Er beinhaltete unter anderem, dass Brosius-Gersdorf nicht Vizepräsidentin des Gerichts werden sollte.

Als sich bei dem PKM-Treffen jedoch ein klares Nein zu der Kandidatin abzeichnete, sagte der ebenfalls anwesende Bundeskanzler Friedrich Merz Teilnehmern zufolge: „Wir rufen die SPD an.“

Der Kurswechsel wird nun mit Plagiatsvorwürfen gegen Brosius-Gersdorf begründet, die am Donnerstag bekannt wurden. Der österreichische „Plagiatsjäger“ Stefan Weber will in der Dissertation der Kandidatin und in der Habilitationsschrift ihres Mannes „Textparallelen“ festgestellt haben. Weber hatte in der Vergangenheit zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten von Spitzenpolitikern auf mögliche Plagiate untersucht.

Die Potsdamer Professorin Frauke Brosius-Gersdorf im Juli 2024.

© imago/teutopress/IMAGO/teutopress GmbH

„Unser Hauptargument als Fraktionsführung war, dass die Kandidatin über jeden juristischen Zweifel erhaben ist – das war mit den neuen Vorwürfen infrage gestellt“, hieß es aus der Fraktion gegenüber dem Tagesspiegel.

Aus der Unionsfraktion war zu hören, dass Merz und Spahn am Donnerstagabend dieses Vorgehen gemeinsam vorbereitet hatten. Im Anschluss an die morgendliche Fraktionssitzung informierte Merz demnach Vizekanzler und SPD-Chef Lars Klingbeil telefonisch. Spahn sprach mit dem sozialdemokratischen Fraktionschef Matthias Miersch.

Der Unionsabgeordnete Andreas Lenz sagte dem Tagesspiegel nach der Sitzung, er „gehe davon aus, dass die SPD die entsprechenden Konsequenzen zieht und wir nun die Zeit haben, eine mehrheitsfähige Kandidatin zu suchen“.

Die SPD-Abgeordneten sind stinksauer

Am Freitagmorgen wiesen die zur Sondersitzung eintrudelnden SPD-Abgeordneten die vielen Fragen der wartenden Journalistinnen und Journalisten, ob sie kurz Auskunft geben könnten, zurück. „Wir wissen selbst noch gar nichts“, war der Tenor. Die Fraktion müsse sich erst beraten. Einige Abgeordnete geben aber doch Einblick und klar wird: Alle sind stinksauer und viele fassungslos.

Die Stimmung vor Beginn der Sitzung beschreibt ein Abgeordneter so: Entweder wir wählen heute alle oder keinen. So ähnlich äußerten sich auch weitere Mitglieder der Fraktion. Der Plan der Union, heute nur zwei Wahlen durchzuführen, stieß bei der SPD also auf massive Abwehr.

Die SPD-Fraktion könnte sich sogar zu einer noch härteren Linie durchringen. Schließlich ist da noch die Sache mit dem Masken-Untersuchungsausschuss. Es wäre eine denkbare Reaktion, wenn die SPD diesen nun möglich machen würde. Wie hart werden die Sozialdemokraten die Sache spielen? Das muss sich nun klären.

Auch die Grünen forderten am Freitagvormittag eine Verschiebung der Richterwahlen, man werde nicht nur einen Teil der Kandidaten wählen. Diesen Vorschlag wollten die Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann und Katharina Dröge SPD und Union machen und einen entsprechenden Antrag zur Änderung der Tagesordnung einbringen.

Beide Grünen-Politikerinnen zeigten sich entsetzt über den Umgang mit Brosius-Gersdorf. Man habe die Kandidatin „diffamiert und in den Schmutz gezogen“, sagte Britta Haßelmann. So einen Vorgang habe es noch nie gegeben, kritisierte sie und machte dafür vor allem Jens Spahn verantwortlich: „Ich finde, das ist ein absolutes Versagen“, sagte Haßelmann.

Kritik am Vorgehen der Union kommt auch aus der FDP. Wolfgang Kubicki hält die Plagiatsvorwürfe gegen die Juristin für vorgeschoben. „Redlich und nachvollziehbar wäre es gewesen, klar zu sagen, dass man als Union Frau Brosius-Gersdorf aus inhaltlichen Gründen nicht wählen kann. Dass man jetzt den Exit über eine beispiellose Schmutzkampagne sucht, ist beschämend“, schreibt er auf X.

Die AfD sieht nach der Verschiebung der Wahl von Verfassungsrichtern gar eine „Regierungskrise“. „Es zeigt sich einmal mehr, dass wir es hier mit einer instabilen Koalition zu tun haben“, sagte AfD-Fraktionschefin Alice Weidel. Zugleich zeigte sich Co-Fraktionschef Tino Chrupalla erleichtert, dass die Wahl vorerst nicht stattfand.

Union und SPD hätten Kandidaten aufgestellt, die nicht mehrheitsfähig gewesen seien, sagte Chrupalla. „Und deshalb ist es heute auch ein guter Tag, dass diese Wahlen in Gänze abgesetzt wurden.“ Die AfD wünsche sich, dass nicht dieselben Kandidaten noch einmal aufgestellt würden, vor allen Dingen nicht jene der SPD, fügte er hinzu.

Kritik von Juristen

Juristische Berufsverbände zeigten sich über die Vorgänge entsetzt. Ulrich Karpenstein, Vizepräsident des Deutschen Anwaltvereins (DAV), sagte dem Tagesspiegel, sein Verband bedauere, dass die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts zunehmend in parteipolitischen Streit und tagesaktuelle Auseinandersetzungen hineingezogen werde.

Wenn dies Schule macht, würde nicht nur das Richterwahlverfahren, sondern das Bundesverfassungsgericht als solches beschädigt.

Ulrich Karpenstein, Vizepräsident des Deutschen Anwaltvereins

„Völlig inakzeptabel ist es, wenn Kampagnen gegen designierte Kandidatinnen und Kandidaten betrieben und dabei wissenschaftlich vertretbare Äußerungen aus ihrem Kontext gerissen werden. Wenn dies Schule macht, würde nicht nur das Richterwahlverfahren, sondern das Bundesverfassungsgericht als solches beschädigt“, so Karpenstein. Im Deutschen Anwaltverein sind über 60.000 Rechts­an­wäl­tinnen und Rechts­anwälte organisiert.

Maximilian Pichl, Vorsitzender der linksgerichteten Vereinigung demokratischer Jurist:innen (VDJ), erklärte beim Kurznachrichtendienst Bluesky: „Wer unter den liberalen Juristinnen wird sich noch für Wahlen zum Bundesverfassungsgericht aufstellen lassen, wenn die Sache jetzt so läuft?“ Die Kollateralschäden für die Justiz seien immens.

Bereits gestern Abend hatte er von einer absurden Situation gesprochen: Brosius-Gersdorf sei „eine sehr gute Juristin, aber weit davon entfernt, im linken Lager der Jurist*innen in Deutschland zu sein“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })