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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seiner USA-Reise im Oktober in Boston.

© Britta Pedersen/dpa

Exklusiv

Lob und Tadel für „Fridays for Future“: Steinmeier warnt vor Schlechtreden der Demokratie

Der Bundespräsident will das Vertrauen in die Politik wieder stärken – und erinnert an die Runden Tische der DDR. Den Klimaschützern sagt er: „Apokalypse lähmt.“

Angesichts der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur Mäßigung aufgerufen. In einem Interview mit dem Tagesspiegel trat er für eine Streitkultur ein, die in der differenzierten Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten eine Verständigung sucht. Anlass für das Gespräch war eine Sonderausgabe zum 30. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November. In Anspielung auf die Friedliche Revolution in der DDR wünschte sich der Bundespräsident neue Runde Tische in Deutschland. Steinmeier forderte in der öffentlichen Diskussion eine klare Abgrenzung von Gewalt. Die Klimaschutzbewegung um „Fridays for Future“ warnte er vor einem Schlechtreden der Demokratie.

„Wer meint, dass irgendeine autoritäre Ordnung besser mit den Herausforderungen der Gegenwart umgehen kann, der irrt“, sagte Steinmeier im Tagesspiegel-Interview. „Ich sage das nicht als Großvater mit den weißen Haaren, sondern aus innerer Überzeugung: Ich kenne keine andere politische Ordnung weltweit, die die Möglichkeit zur Umkehr, die Möglichkeit zur Selbstkorrektur so in sich trägt wie die Demokratie.“

Wenn in der Vergangenheit Weichen falsch gestellt wurden, dann biete die Demokratie die Möglichkeit, diese falschen Weichenstellungen zu korrigieren, rief der Bundespräsident in Erinnerung. „Wir kommen aber nicht weiter, wenn wir jede Woche apokalyptische Bedrohungen beschreiben, die kaum zu bewältigen scheinen. Denn Apokalypse lähmt.“ Dadurch würden „die Möglichkeiten der Demokratie immer kleiner geredet“.

Gleichwohl fand der Bundespräsident auch lobende Worte für den von Schülerinnen und Schülern initiierten Protest: „Es hat wahrscheinlich keine gesellschaftliche Bewegung der vergangenen 20 Jahre so viel Aufmerksamkeit und Debatte erreicht wie Fridays for Future“, sagte Steinmeier. „Das ist ein großer Verdienst der engagierten jungen Leute und hilft, notwendige Maßnahmen auch tatsächlich anzuschieben.“

[Mehr zum Thema: „Die Forderung, dass Fleisch teurer wird, ist sozial ignorant“, sagt die Linke Sahra Wagenknecht im Tagesspiegel-Interview.]

Der Bundespräsident rief Politik und Medien auf, die Arbeit der Bundesregierung nicht zu einseitig zu beurteilen. „Wir müssen aufpassen, nicht den Eindruck zu erwecken, dass sich die Politik in persönlichen Querelen und Machtspielchen erschöpft“, sagte Steinmeier. „Wir sollten die Regierung vielmehr daran messen, was sie sich vornimmt und ob sie ihre Vorhaben umsetzt – und uns nicht in Spekulationen und Gerüchten erschöpfen.“

Lübcke-Mord und Halle: „Schweigende Mehrheit muss laut werden“

Eine scharfe Abgrenzung forderte Steinmeier gegen die Feinde der Demokratie. „Es macht mich fassungslos, nach Verbrechen wie der Ermordung von Walter Lübcke oder dem Anschlag in Halle, bei einigen klammheimliche Freude zu sehen“, sagte Steinmeier im Tagesspiegel-Interview. „Wer für Mord und Gewalt auch nur einen Funken von Verständnis aufbringt, der macht sich mitschuldig.“

Er sei die „die tägliche Verächtlichmachung von demokratischen Institutionen und ihrer Repräsentanten leid: Die Beleidigungen von Bürgermeistern, das Gerede vom 'System', das alles trägt zur Diskreditierung der Demokratie bei“, betonte Steinmeier. Deshalb erwarte er „von der schweigenden Mehrheit, (…) endlich laut zu werden und Position zu beziehen“.

„Wer andere abschreibt, hat auch die Demokratie abgeschrieben“

Zugleich warnte er – ohne die AfD zu nennen – davor, bestimmte Wählergruppen verloren zu geben. „Wer andere abschreibt, der hat auch die Demokratie schon abgeschrieben“. sagte der Bundespräsident. „Wir müssen uns auch um die bemühen, die irritierend anderer Meinung sind.“ Vertrauen wachse dann, wenn Politik vor Ort präsent sei und die Bürger spürten, dass ihre Probleme und Nöte erkannt und bearbeitet werden und sie sich in der öffentlichen Debatte wiederfinden.

Das Bemühen müsse allerdings dort enden, wo es um Menschenverachtung und Gewalt gehe, machte das Staatsoberhaupt deutlich. „Wir müssen diese Grenze klarer als bisher markieren und auch durchsetzen – im Netz ebenso wie auf den Schulhöfen und Marktplätzen“, forderte Steinmeier. „Wer sich für unsere Demokratie einsetzt, der muss auf den Schutz des Staates vertrauen können.“

Linkspartei in Thüringen für viele keine radikale Partei

Angesichts der Debatten in der CDU warnte Steinmeier indirekt davor, Linke und AfD pauschal auf eine Stufe zu stellen. „Die Landtagswahl in Thüringen hat gezeigt, dass Parteien von den Wählerinnen und Wählern regional sehr unterschiedlich bewertet werden“, sagte er. „Die Linkspartei stand dort offenbar für die meisten Wähler nicht für radikale Veränderungen, sondern hat auch Bewahrendes verkörpert.“

[30 Jahre Mauerfall: Der Tagesspiegel feiert das Jubiläum am 9. November mit einer umfangreichen Sonderausgabe. Bestellen Sie die Zeitung in ihrer digitalen Variante hier kostenlos.]

Die Wahl in Thüringen hatte keinem politischen Lager eine Mehrheit beschert. Noch ist völlig unklar, welche Koalition das Land künftig regieren könnte. Der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow bleibt vorerst geschäftsführend im Amt. Steinmeier sagte deshalb: „Mit bloßen Etiketten kommen wir künftig nicht mehr sehr weit, wenn Parteien ihren Umgang miteinander finden müssen.“

Kontrahenten in Thüringen: Mike Mohring von der CDU und der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow (rechts).
Kontrahenten in Thüringen: Mike Mohring von der CDU und der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow (rechts).

© Martin Schutt/dpa

Bundespräsident für neue „runde Tische“ – und mehr Streit

Zur Überwindung der Polarisierung in der Gesellschaft forderte der Bundespräsident mit Blick auf die Wende vor drei Jahrzehnten viele neue „runde Tische“ in Deutschland. „Ich habe selbst oft erlebt, dass sich, wenn Menschen einander Auge in Auge gegenübersitzen, die Kommunikation verändert und die Bereitschaft zum Zuhören entsteht“, sagte Steinmeier im Tagesspiegel-Interview. „Darum können sich zum Beispiel Städtepartnerschaften, Nachbarschaftsinitiativen oder digitale Stammtische bemühen.“

[Lesen Sie mehr: „Keine Diktatur der Welt kann die Liebe abschaffen“, sagt Steinmeiers Amtsvorgänger Joachim Gauck im Tagesspiegel-Interview.]

Was die Runden Tische der friedlichen Revolution so besonders gemacht habe, sei „das pragmatische, auf Verständigung ausgerichtete Ringen um die gemeinsame Zukunft.“ Vor allem die sozialen Medien würden heute stattdessen die Polarisierung verstärken. „Dort gibt es wenig Platz für Differenzierendes: Das Netz kennt oft nur schwarz und weiß, Zwischentöne sind nicht vorgesehen.“ Der Bundespräsident forderte mehr konstruktiven Streit. „Wir müssen wieder lernen, uns mit anderen Standpunkten auseinanderzusetzen, wir müssen wieder lernen, konstruktiv miteinander zu streiten. Streit zu vermeiden ist nicht die Aufgabe von Demokraten“, betonte Steinmeier.

Steinmeier fordert Solidarpakt der Wertschätzung

Allerdings gestand Steinmeier auch ein, dass der Westen die Verwerfungen im Osten ignoriert habe, die aus dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung resultierten. „Die Ostdeutschen haben mit der friedlichen Revolution, mit Mauerfall und Wiedervereinigung deutsche Demokratiegeschichte geschrieben“, sagte Steinmeier. „Aber was danach kam – die vielen persönlichen Umbrüche, der Jobverlust, die Abwanderung ganzer Generationen, die unzähligen Veränderungen – das ist im Westen nicht wirklich gesehen, geschweige denn anerkannt worden.“ Das habe zu neuen Enttäuschungen, zu neuen Rissen geführt.

Der Bundespräsident forderte deshalb einen Solidarpakt der Wertschätzung für die Menschen in Ostdeutschland. „Es war eine Illusion zu glauben, wir könnten dieses Problem allein mit Geld lösen“, kritisierte Steinmeier. „Wir brauchen deshalb einen neuen, einen ganz anderen Solidarpakt – einen der offenen Ohren und des offenen Austauschs, der Wertschätzung und des Respekts, zwischen Ost und West, aber auch über die anderen, die lebensweltlichen Gräben in unserem Land hinweg.“. Das Ziel müsse eine „Anerkennung von Lebensleistung“ sein.

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