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 Twitter-Chef Elon Musk spricht von Amnestie.

© imago/UPI Photo / IMAGO/John Angelillo

Twitter sperrt auf: Was den Nutzern bleibt, ist der Boykott

Für Elon Musk ist Freiheit, wenn im Internet die Fetzen fliegen. Seine Plattform killt das politische Klima. Es erstaunt, wie viele trotzdem dabeibleiben.

Eine Kolumne von Jost Müller-Neuhof

Das Voting ist beendet, der neue Twitter-Chef Elon Musk macht Ernst. „Das Volk hat gesprochen“ verkündet der Unternehmer auf seiner Plattform. „Die Amnestie startet nächste Woche“. Offenbar zur Legitimation seines Vorhabens postete er dazu eine lateinische Sentenz: „Vox populi, vox dei“, die Stimme des Volkes ist Gottes Stimme.

Nun sollen die gesperrten Accounts wieder freigeschaltet werden, mit Ausnahme derer von Rechtsbrechern und solchen, die dort Spam verzapfen. Das globale Gezwitscher tritt in die nächste Phase. Fast alle sollen wieder dabei sein, die der Dienst ausgeschlossen hatte, weil sie sich schlicht nicht benehmen konnten. Musk nennt das Freiheit.

Freiheit ist ein wunderbares Prinzip, ebenso das der Mehrheit. Es sind konstituierende Bestandteile einer Demokratie. Freiheit und Mehrheit, das bedeutete das Ende der Adelsherrschaft und den Aufstand gegen die Macht des Klerus. Keine Frage, in dieser Tradition sieht sich der reichste Mann der Welt.

Auf diejenigen muss man nicht hören, die zu sagen pflegen, ‚Volkes Stimme, Gottes Stimme‘, da die Lärmsucht des Pöbels immer dem Wahnsinn sehr nahe kommt.

Alkuin, Berater Karls des Großen

Die Freiheit, die er meint, ist allerdings vor allem die Freiheit von Regeln. Die Zügellosigkeit. Und die Mehrheit ist keine, die in geordneten Verfahren ermittelt wurde, sondern eine Umfrage, an der sich alles und jeder beteiligen konnte, einschließlich Umfrage- und Abstimmungsrobotern.

Wenn es stimmt, was da kundgetan wurde, dass immerhin knapp 30 Prozent von drei Millionen Beteiligten gegen Musks Generalamnestie votierten, darf dies als beeindruckendes Zeugnis des Widerstands gelten. Leider gibt es keine Sperrminorität, keine Quoren. Musk hätten 51 Prozent genügt, vielleicht auch 49. Niemand weiß, wie dieser Mann rechnet.

„Vox populi, vox dei“, das sollte die Richtigkeit der Entscheidung beglaubigen. Der lateinische Ausspruch im ganzen Satz, der dem höfischen Berater Karls des Großen zugeschrieben wird, nimmt allerdings eine andere Richtung. Dort heißt es, man solle besser nicht auf die hören, die von „vox populi, vox dei“ reden, weil die Lärmsucht des Pöbels nah am Wahnsinn sei.

Es kommt nicht auf die Zahl der Nutzer an, sondern deren Einfluss als Multiplikatoren

Das kann man so wirken lassen als mittelalterliche Einsicht, die möglicherweise bis in die digitale Gegenwart reicht. Fest steht, dass die sozialen Medien ein Potenzial an Öffentlichkeit erschlossen haben, das schnell und tief in die Gesellschaften dringt.

Wie Twitter etwa für Deutschland gezeigt hat, kommt es dabei nicht zwingend auf die Zahl der Nutzer an, sondern deren Einfluss als Multiplikatoren. Die sind gerne und viel auf der Plattform, holen sich Informationen, bilden sich ihre Meinungen, halten ihre Gefolgschaft bei Laune.

Dem Rechtsstaat ist diese Dynamik enteilt, wie sich jetzt auch wieder an der Klage des Baden-Württemberger Antisemitismusbeauftragten zeigt, der im Netz als Antisemit geschmäht wird. Es bleibt den Einzelnen überlassen, sich durch die Instanzen zu kämpfen. Wer nicht die Kraft oder das Geld hat, muss weiter leiden. Hinzu kommt, dass die freie Rede auch bei Twitter unter Grundrechtsschutz steht. Sie gesetzgeberisch einzuhegen wird sich immer daran messen lassen müssen.

Bliebe eigentlich nur eine Maßnahme zu Gegenwehr, der umfassende Boykott. Außer ein paar prominenten Abgängen ist davon wenig zu sehen. Fußball boykottiert sich leichter, von Russlands Gas verabschiedet man sich schneller. Twitter scheint Abhängigkeiten geschaffen zu haben, für die noch kein Substitut gefunden wurde.

Die Faszination vom Führen und Folgen in digitaler Verbundenheit betäubt alle ethischen Bedenken. Nötig wäre jetzt Protest, durchaus mit gewisser Radikalität. Es müsste ein Ruck durch die Twitterwelt gehen, dass Elon Musk der Boden unter den Füßen wackelt. Es wäre vielleicht auch ein Moment der Einkehr. Twitter killt das politische Klima. Und so wie man Geld nicht essen kann, kann man dort nicht miteinander reden.

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