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Auch an dieser Tankstelle in Großbritannien gibt es kein Benzin mehr.

© Reuters/Phil Noble

Versorgungskrise in Großbritannien: Prügelei um wenige Liter Benzin

Britische Tankstellen haben seit fünf Tagen kaum Sprit mehr, weil Lkw-Fahrer fehlen. Jetzt soll die Armee helfen.

Fünf Tage nach Ausbruch einer schweren Benzinversorgungskrise in Großbritannien war auch am Dienstag kein Ende in Sicht. In besonders stark betroffenen Gebieten wie der Hauptstadt London blieb jede zweite Tankstelle geschlossen, vor den verbliebenen Zapfsäulen bildeten sich teils kilometerlange Schlangen. Vereinzelt kam es zu Prügeleien um wenige Liter Benzin.

Schon warnt der Ärzteverband vor Personalproblemen in Krankenhäusern, Logistikfirmen kündigen erhebliche Verzögerungen bei der Paketauslieferung an. Die britische Armee bildet im Schnellverfahren Tankerfahrer aus, um den Kollaps der Volkswirtschaft zu verhindern.

Versorgungsschwierigkeiten erlebt die Brexit-Insel seit vielen Wochen. Immer wieder stehen die Briten vor leeren Supermarkt-Regalen, Hygieneartikel fehlen ebenso wie Käse und frische Gurken. Verbrauchermärkte und die Bauindustrie klagen über den Mangel an einfachsten Grundstoffen wie Holz. Fastfood-Ketten wie McDonald’s können wegen „vorübergehender Lieferprobleme“ beliebte Produkte wie Milchshakes nicht mehr anbieten, sie mussten sogar Dutzende Filialen schließen.

Auf den Feldern verrottet Obst und Gemüse tonnenweise. Weil zu wenig ausgebildete Fleischer zur Verfügung stehen, warnt der Fachverband BPC, sei ausgerechnet zu Weihnachten mit einer Knappheit bei Geflügel zu rechnen. Damit gerät das traditionelle englische Truthahn-Festessen in Gefahr.

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In vielen Branchen, nicht zuletzt der Gastronomie, fehlen Arbeitskräfte. Während die konservative Regierung von Premierminister Boris Johnson dafür stets die Corona-Pandemie verantwortlich macht, weisen unabhängige Fachleute vor allem auf die Brexit-Folgen hin. Seit das Königreich zu Jahresbeginn endgültig aus Zollunion und Binnenmarkt ausschied, gilt die Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus der EU nicht mehr.

Dabei waren Obst- und Gemüsebauern ebenso auf billige und willige Arbeitskräfte vom Kontinent angewiesen wie viele Londoner Hotels und Spitzenrestaurants. Deren führende Vertreter wie Yotam Ottolenghi und Rocco Forte wandten sich am Dienstag mit einem Brandbrief an die Regierung. Die bisherigen restriktiven Einwanderungsbestimmungen müssten vor allem für gut qualifizierte Arbeitskräfte revidiert werden.

Das hat die Regierung bisher stets abgelehnt, weshalb es einer kleinen Sensation gleichkam, als übers Wochenende von Sondervisa für EU-Kraftfahrer die Rede war. Bis Weihnachten sollen 5000 Trucker vom Kontinent die schlimmsten Engpässe beseitigen. Die Resonanz blieb lauwarm. Seine Mitglieder hätten wenig Grund, so Edwin Atema von der niederländischen FNV-Gewerkschaft unverblümt, „den Briten aus der Scheiße zu helfen“.

Es fehlen zurzeit zirka 100.000 Lastwagenfahrer

Supermarktketten bieten erfahrenen Lastwagenfahrern schon seit Wochen Begrüßungsprämien von mehreren tausend Euro. Denn bei den Kraftfahrern macht sich der Mangel am eklatantesten bemerkbar. Für viele qualifizierte EU-Bürger lohnt sich das Großbritannien-Geschäft wegen der zusätzlichen Brexit-Bürokratie nicht mehr, zudem fühlen sie sich auf der Insel wenig anerkannt.

Während beispielsweise Trucker in Frankreich Raststätten mit Duschen und kostenlosen Parkplätzen vorfinden, müssen sie an britischen Autobahnen umgerechnet rund 35 Euro pro Nacht bezahlen.

Berechnungen des Branchenverbands RHA zufolge fehlen derzeit rund 100.000 Brummifahrer. Neben dem Brexit ist dies auch eine Folge von Sars-CoV-2. Wegen der Pandemie fielen monatelang die Prüfungen für Lastwagen-Führerscheine aus, über den Sommer wurde der Rückstand nicht aufgeholt.

Unterdessen stauen sich vor den Tankstellen weiterhin verzweifelte Autofahrer. Schon werden Erinnerungen an ähnliche Krisensituationen wach. Ältere beschwören ein mehr als 40 Jahre zurückliegendes Szenario herauf. Der „Winter unseres Missvergnügens“, wie er mit einem Zitat von Nationaldichter William Shakespeare genannt wurde, brachte zur Jahreswende 1978/79 das Land durch Massenstreiks und Kohleknappheit zum Erliegen. Dieser Winter fegte die damalige Labour-Regierung zugunsten der konservativen Reformerin Margaret Thatcher aus dem Amt. Ob Thatchers Enkel Johnson nun umgekehrt Ähnliches bevorsteht?

Erstmals deuten die Umfragen auf anhaltende Unzufriedenheit mit der Brexit-Regierung hin. Von der Firma Opinium nach den Ursachen für die Krise gefragt, benannten die Briten zwar an erster Stelle die Covid-Pandemie (76 Prozent); gleich dahinter aber folgen die Regierung (70), der Brexit (68) und Johnson persönlich (67).

Das normalerweise stets loyale Boulevardblatt „Sun“ sprach am Dienstag von „Chaos und Konfusion“. Das Wirtschaftsblatt „Financial Times“ forderte den Regierungschef eisig dazu auf, er solle gefälligst „die Lage in den Griff bekommen“.

Aber wie? Einstweilen wirken Johnsons Minister konfus. Am Montag machte Landwirtschaftsminister George Eustice die Bevölkerung für unnötige Hamsterkäufe verantwortlich. Vom Einsatz der Armee könne nicht die Rede sein. Tags darauf hieß es aus der Downing Street, bis zu 150 Soldaten sollten Tanklaster kutschieren.

Um den Mineralölkonzernen Esso, Shell und BP bessere Absprachen bei der Versorgung der rund 8500 Tankstellen im Land zu ermöglichen, wurde das Wettbewerbsrecht teilweise außer Kraft gesetzt. Appelle zur Ruhe zeigen einstweilen keine Wirkung.

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