zum Hauptinhalt
Neue Wege. Die WZB-Wissenschaftler Wolfgang Merkel und Wolfgang Schroeder raten der SPD zu einer "Zäsur".

© dpa

Von der Volks- zur Brückenpartei: So sieht eine erfolgreiche Zukunft der SPD aus

Die SPD ist Spezialistin für Wahlniederlagen und Moral geworden. Was tun? Sie muss die Brücke zur Gesellschaft wiederfinden. Gar nicht so schwer. Ein Essay.

Professor Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung "Demokratie und Demokratisierung" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Berlin (WZB). Professor Wolfgang Schroeder ist seit 2016 WZB-Fellow und Professor an der Universität Kassel.

Die Bilanz liest sich katastrophal. Im Jahr 2002 gewann die SPD das letzte Mal Wahlen im Bund. Ab dann kannte die Entwicklung meist nur eine Richtung: nach unten. 34,2 Prozent (2005), 23,0 Prozent (2009), 25,7 Prozent (2013), 20,5 Prozent (2017). Bei den Europawahlen 2019 waren es nur noch 15,8 Prozent. Die jüngsten Umfragen sehen die Partei nun bei 13 Prozent. Die einst stolze Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist zu einer Spezialistin für Wahlniederlagen geworden.

Dann trug sich vergangene Woche Folgendes zu: Die dänischen Sozialdemokraten gewannen mit rund 26 Prozent die Wahlen. Die Rechtspopulisten erlitten eine dramatische Niederlage: Die Dänische Volkspartei sackte von 21,1 Prozent auf 8,7 Prozent ab. Dies hat nicht zuletzt, aber doch vornehmlich mit den migrationskritischen Positionen der Partei um ihre Spitzenkandidatin Mette Frederiksen zu tun.

Bollwerk gegen rechts? Mit 13 Prozent?

In wirtschaftlichen und sozialpolitischen Fragen hat sie authentisch sozialdemokratisches Profil gezeigt, bei der Immigration jedoch eine restriktive Politik verlangt. Diese Kombination wurde insbesondere von der traditionellen Wahlklientel der „kleinen Leute“ goutiert. Nach Portugal, Spanien, den Niederlanden, Finnland und Schweden zeigten nun auch die dänischen Sozialdemokraten, dass sie Wahlen in Europa gewinnen können.

Konfrontiert mit der Frage, ob die SPD nicht auch vom jüngsten Wahlerfolg der dänischen Sozialdemokratie lernen könnte, antwortete Ralf Stegner: „Ressentiments verbieten sich für die SPD. Sozialpolitisch nach links steuern, das tun wir längst, gesellschaftspolitisch nach rechts gehen, kommt für uns nicht infrage.“ Die SPD müsse weiter ein „Bollwerk gegen Rechtspopulisten“ bilden. Bollwerk? Mit 13 Prozent?

Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Migration in der SPD, Aziz Bozkurt, setzte noch eins drauf: „Beschämend! Wie kann man da nur gratulieren?“, postete er unsolidarisch, aber selbstgewiss zum Wahlerfolg der Schwesterpartei. Da ist sie wieder die moralische Hybris. Die anderen mögen Wahlen gewinnen, wir aber haben die richtige (kosmopolitische) Moral. Die SPD droht im gegenwärtigen Strudel ihres dramatischen Verfalls zu einer Doppelspezialistin zu werden: eine für Wahlniederlagen und eine für die überlegene Moral. Das ist das lernunwillige Verhalten einer Partei, die den Anschluss an traditionelle Teile der Gesellschaft verloren hat.

Um wieder Gehör zu finden, braucht es eine Zäsur

Die soziale Demokratie als Ensemble von Ideen, Prinzipien und Zielen ist gesellschaftlich tief verankert. Die SPD als die Partei der sozialen Demokratie ist es nicht mehr. Wie kann die SPD wieder gesellschaftlich verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen und die soziale Demokratie voran- bringen? Wie könnte eine Erfolg versprechende Strategie aussehen, um die sozialdemokratischen Ideen von sozial-ökologischer Modernisierung der wissensbasierten Industriegesellschaft, einem vorbeugenden Sozialstaat, regulierter Zuwanderung und gelingender Integration wieder an die gesellschaftlichen Trends anzuschließen und diese maßgeblich mit zu prägen? Um wieder Gehör zu finden, braucht es zunächst eine glaubwürdig begründete Zäsur.

Mit Blick auf die SPD-Parteigeschichte darf man an die tiefste Stunde sozialdemokratischer Not in der alten Bundesrepublik erinnern. Nach der desaströsen Wahlniederlage des Jahres 1957, als die Union das erste und einzige Mal die absolute Mehrheit bei einer Bundestagswahl erreichte, reagierte die SPD mit einer doppelten Zäsur: Sie formulierte Reformen für Partei und Programmatik in einer Art Doppelbeschluss auf den Stuttgarter (1958) und Godesberger (1959) Parteitagen.

In Stuttgart nahm die SPD von der alten Parteiorganisation Abschied, verlagerte ihr Schwergewicht in die Fraktion und öffnete sich für die neuen medialen Herausforderungen. In Godesberg modernisierte sie ihr politisches Programm. Sie löste sich von überkommenen marxistischen Schablonen, um den Kapitalismus sozial zu gestalten. Überwinden wollte sie ihn nicht mehr. Es war eine kopernikanische Wende, die es der modernisierten SPD ermöglichte, in der gesellschaftlichen und politökonomischen Realität der jungen Bundesrepublik anzukommen.

Weg mit den Hinterzimmerdeals!

Kann die SPD-Spitze wenigstens aus ihrer eigenen Vergangenheit lernen, wenn sie sich schon weigert, dies aus den Wahlerfolgen der dänischen Schwesterpartei zu tun? Kurzfristig ist die SPD mit zwei zentralen organisatorischen Herausforderungen konfrontiert: Erstens benötigt sie eine neue Legitimationsbasis für ihre anachronistische Führungsstruktur. Weg von den entrückten Hinterzimmerdeals und Direktiven der Parteizentrale, aber auch weg von den tragödienhaft ausgetragenen Diadochenkämpfen.

Es könnte nun zu einer Doppelspitze kommen, die durch eine Urwahl der Parteimitglieder solide legitimiert werden kann. Auch wenn das nicht neu ist, könnte es die Parteikultur modernisieren. Die Gendergerechtigkeit würde symbolhaft gestärkt, der rechte wie linke Flügel würden repräsentiert, die klassischen Lager durchlässiger.

Nach dem Rückzug von Andrea Nahles steht die Frage nach der Großen Koalition im Zentrum. Noch im Dezember 2017 plädierten wir im Tagesspiegel für die GroKo. Heute ist die Lage komplizierter und die SPD noch schwächer geworden: Einerseits sehen wir, dass die SPD sichtbare Erfolge, wie in der Sozialpolitik aufzuweisen hat. Andererseits sehen wir aber auch, dass diese Erfolge in der Wählerschaft kaum wahrgenommen, geschweige denn honoriert werden.

Hinzu kommen auch Fehler der Parteiführung, wie interne Führungskonflikte, fehlendes Charisma, problematische öffentliche Auftritte der Parteivorsitzenden. Der Fokus auf Migrationsfragen aber auch die Katastrophenszenarien des Klimawandels kamen vor allem der AfD und den Grünen zugute. Die SPD hatte dem in der Öffentlichkeit wenig entgegenzusetzen. Sie bestimmte nicht die Agenda gesellschaftlicher Diskurse, sondern wurde ihr Opfer. Die Wähler der SPD vermissten ein Zukunftsprofil, inhaltlich wie personell. Die SPD wurde zunehmend als angestaubte Partei der Vergangenheitsverwaltung wahrgenommen.

Wie wäre es, ein CDU-Minderheitskabinett zu unterstützen?

Wir plädieren nicht einfach für den Verbleib oder für einen unvermittelten Ausstieg. Die Revisonsklausel im Koalitionsvertrag soll aber als Chance ernst genommen werden. Ernst nehmen, bedeutet nicht einfach in die Opposition zu stürzen. Wir sehen aber für die SPD die Chance eine öffentliche Debatte zu führen. Wenn sich dann im Rahmen der Revisionsklausel keine mehrheitliche Akzeptanz für die Groko herstellen lässt, dann sollte die SPD die Regierung verlassen.

Da aber mit Neuwahlen weder der SPD noch der CDU noch dem Lande gedient ist, könnte die SPD das Angebot unterbreiten, ein CDU-Minderheitskabinett soweit aus der Opposition zu unterstützen, wie es den Koalitionsvertrag abarbeitet. In die frei gewordenen Portfolios könnten Experten einrücken. Die SPD würde einerseits deutlich machen, dass sie ihr sozialdemokratisches Profil schärft. Andererseits würde sie nicht einfach den Bettel hinschmeißen, sondern eine Zusammenarbeit in Sachfragen anbieten. Der Partei, aber auch dem politischen Gemeinwesen wäre gedient.

Gleichzeitig würde die SPD einen parlamentarischen Kulturwandel des Verhältnisses zwischen Regierung und Parlament, Mehrheit und Minderheit einleiten. Da Regierungsbildungen in der Zukunft infolge prekärer Mehrheiten schwieriger werden, würde damit ein Weg in verantwortliche Minderheitsregierungen geöffnet. Dies ist in Zeiten pluralisierter Vielparteiensysteme eine unvermeidliche Innovation des Regierens im 21. Jahrhundert. Doch es bedarf weiterer Reformen.

Katastrophenszenarien sind nichts für kluge Politik

Notwendig ist eine grundsätzlichere Sicht der Dinge. Die großen Megatrends Digitalisierung, Klimawandel, Mobilität, Migration, neue soziale Ungerechtigkeit und demographischer Wandel erzwingen dies. Wie könnte Deutschland dabei wissensbasiertes Industrieland bleiben, eine verantwortbare Nutzung neuer Technologien vorantreiben, um Wohlstand für alle, insbesondere auch die unteren Einkommensgruppen zu ermöglichen?
Dabei darf die SPD nicht einfach wie die Grünen dem Kampf gegen den Klimawandel alles unterordnen.

Katastrophenszenarien gehören zwar mittlerweile zur diskursiven (Un-)Kultur dieses Landes, sind aber keine guten Ratgeber für kluge Politik. Die Sozialdemokratie muss diese Politiken verbinden, in Einklang bringen, Brücken bauen. Die SPD kann sich dann als sozial-ökologische Reformpartei, als digitale Wissenspartei und in der Zivilgesellschaft verwurzelte Partei neu denken. Dies wäre nicht mehr die alte Volkspartei, sondern eine Brückenpartei, die traditionelle Milieus und Probleme mit den Wirtschafts- und Gesellschaftssphären der Zukunft verbindet.

Auf der inhaltlichen Ebene geht es darum, die SPD wieder zu einer Partei des sozial-ökologischen Fortschritts in der wissensbasierten Industriegesellschaft zu machen. Sie kann den vorsorgenden Sozialstaat forcieren, ohne seine arbeitsgesellschaftlichen Grundlagen zu ignorieren. Die Grundsicherungen muss sie ausbauen. Die Mitbestimmung in Betrieben und Konzernen ist zu stärken. Sie muss größere Kompetenz erwerben, um den digitalen Wandel sozial zu gestalten. Auch die ökologische Frage muss besser mit der Wirtschaftspolitik verknüpft werden. Finanzpolitik soll nicht nur „deutsch“ (Scholz), sondern auch sozialdemokratisch und europäisch sein.

Anschluss gesucht!

Die SPD hat den Anschluss an die wissenschaftlichen Communities verloren. Sie muss eine Brücke zu den Wissenschaften schlagen. Dies gilt nicht für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften oder die allgegenwärtige Meinungsforschung, sondern gerade auch für die Naturwissenschaften. Denn es geht um ein komplexes Bündel von Zukunftsfragen, die ohne Wissenschaft nicht zu beantworten sind: Sicherung der hochentwickelten Industrie, digitaler Wandel, Mobilität der Zukunft, künstliche Intelligenz oder den Eingriff in das menschliche Erbgut. Hier liegen immense ökonomische und gesellschaftliche Chancen. Allerdings müssen sie im kooperativen Verbund von Wissenschaft und Politik verantwortungsvoll gerahmt und gefördert werden.

Auch hier kann die SPD Brückenpartei sein.

Die SPD ist einst aus einer (Arbeiter-)Bewegung entstanden. Heute hat sie die Verbindung zu den sozialen Bewegungen verloren. Soziale Bewegungen in der Online- wie Offline-Welt, Stiftungen und Think Tanks sind aber die Seismographen des gesellschaftlichen Wandels. Sie sind Pfadfinder in die Zukunft hinein. Verlieren Parteien diese Verbindung, erstarren sie, werden zukunftsunfähig.

Schon spricht eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler den sozialen Bewegungen eine größere Relevanz für die Zukunftsgestaltung zu als den Parteien. Dabei geht es auch, aber keineswegs nur um Fridays for Future, Umweltverbände und NGOs in der humanitären Sphäre der Politik.

Die SPD ist die Partei der Oberbürgermeister

Auch traditionelle Verbände wie die Gewerkschaften, treten heute im Zeitalter der Digitalisierung (Arbeit 4.0) kompetenter und moderner auf als die SPD in Partei, Fraktion und Regierung. Eine breitere Brücke zu dem alten Bündnispartner führt deshalb nicht in die industrielle Vergangenheit. Die SPD ist die erfolgreichste Oberbürgermeisterpartei Deutschlands. Dennoch spielen aber diese direkt gewählten, gut ausgebildeten, kommunikativen Profis, die die Sozial- und Lebenslagen unserer Republik nicht nur aus der Zentrale in Berlin, sondern auch an der Basis gut kennen, kaum eine Rolle in den Spitzengremien und Parteidiskursen der SPD. Dies zu ändern bürgte auch die Chance, den Kosmopolitismus der Berliner Partei- und Regierungseliten mit den kommunitaristischen Traditionen der Kommunen besser zu verzahnen.

Geschieht das nicht, dominiert der elitäre Kosmopolitismus der Privilegierten die öffentliche Wahrnehmung der SPD. Die Oberbürgermeister in Dortmund, Duisburg und Essen können damit alles, nur nicht ihre Aufgaben im Integrationsalltag lösen. Wenn offizielle Diskurse und praktische Politik auseinanderfallen, leidet die Glaubwürdigkeit der Politik. So könnte es am Ende sein, dass der kosmopolitische Moralismus einiger Parteieliten die Funktionsträger in den Kommunen dann doch nicht hindert, zumindest ein bisschen von Dänemark zu lernen und dieses zurück in die Parteizentrale tragen. Brücken können von beiden Seiten begangen werden.

Auch das kann die SPD wieder lernen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false