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Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Er übernahm die Praxis von seinen Vorgängern.

© dpa / Uli Deck

Exklusiv

Vorab-Infos für Medien: Verfassungsgericht brach seine Regeln

Mit seiner ehemals geheimen Öffentlichkeitsarbeit verstieß Karlsruhe jahrelang gegen die eigene Geschäftsordnung. Erst spät wurde die Vorschrift angepasst.

Stand:

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner umstrittenen Herausgabe vertraulicher Vorab-Mitteilungen über Urteile offenbar jahrelang gegen die eigene Geschäftsordnung (BVerfGGO) verstoßen. Dies geht aus Angaben des Gerichts zum Wortlaut einer früheren Fassung der Geschäftsordnung hervor, wonach Presseverlautbarungen über Urteile erst dann „hinausgegeben“ werden dürfen, wenn „anzunehmen ist, dass die Entscheidung den Prozessbeteiligten zugegangen ist“.

Die Vorschrift wurde erst im Jahr 2014 der bis heute geltenden Praxis angepasst, nach der die private Journalistenvereinigung „Justizpressekonferenz“ in Karlsruhe bereits am Tag vor der Urteilsverkündung exklusiv Zugang zu Pressemitteilungen erhält. Ihre Mitglieder dürfen sie abends an der Pforte des Gerichts abholen. Berichten dürfen die Medien aber erst, wenn das Gericht zusammentritt und die Urteile öffentlich verkündet.

Politiker, Presserat und Journalisten-Verband kritisierten die Praxis

Die erst vor zwei Jahren öffentlich bekannt gewordene und an deutschen Gerichten einzigartige Praxis wurde vom Deutschen Presserat, dem Deutschen Journalisten-Verband sowie von Politikern von Linken, FDP und AfD kritisiert. Das Verfassungsgericht selbst hält die Vorab-Mitteilungen wegen der Komplexität seiner Urteile für nötig und will nach eigenen Angaben dafür nur mit „zuverlässigen“ und fachlich gebildeten Journalisten kooperieren, wie sie in der „Justizpressekonferenz“ zusammengeschlossen seien. Dies sind zu einem wesentlichen Teil Korrespondenten von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.

Presseverlautbarungen über ergangene Entscheidungen bedürfen der Billigung des Berichterstatters und des Vorsitzenden und dürfen erst hinausgegeben werden, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung den Prozessbeteiligten zugegangen ist.

Bis 2014 gültige Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts

Die AfD hat gegen das Bundesverfassungsgericht Klage erhoben, weil das Vorgehen gegen ihr Recht auf ein faires Verfahren verstoße. Als Prozessbeteiligte in Karlsruhe könnten Politiker der Partei von den vorab über Urteile eingeweihten Medien gerade bei TV-Interviews regelrecht vorgeführt werden, hieß es. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe wies die AfD-Klage in erster Instanz ab.

Der Paragraf wurde umgeschrieben. Warum, das weiß angeblich niemand mehr

Auf Anfrage wollte das Gericht sich nicht zum Widerspruch seiner Medienarbeit gegenüber den Regeln der früheren Geschäftsordnung äußern. Zur „Rechtsfrage des Anwendungsbereichs“ der ehemals geltenden Vorschrift des Paragraf 32 BVerfGGO werde keine Stellung genommen, teilte ein Sprecher mit. Die Änderung sei „im Rahmen einer umfassenden Überarbeitung“ erfolgt, bei der es wesentlich um die Einführung geschlechtergerechter Sprache ging.

Das Wort „hinausgegeben“ im Paragraf 32 wurde damals gestrichen. Seitdem heißt es, Informationen über ergangene Entscheidungen dürften erst „veröffentlicht“ werden, wenn anzunehmen sei, dass die Entscheidung den Prozessbeteiligten zugegangen ist. Ein vorzeitiges „Hinausgeben“ an der Pforte ist damit auch nach den Buchstaben der BVerfGGO möglich geworden. Parallel dazu gab sich das Gericht Richtlinien für seine Pressearbeit, die eine vollständige Schweigeverpflichtung vorsehen. Es gibt demnach nicht nur eine „Sperrfrist“ für die Veröffentlichung, sondern die Journalistinnen und Journalisten müssen obendrein schriftlich erklären, dass sie das übergebene Papier weder kopieren noch scannen und auch keine Inhalte mündlich weitergeben. 

„Privilegien der Justizpressekonferenz sollen vermieden werden“, heißt es im Gerichtsprotokoll

Ob Paragraf 32 neu gefasst wurde, weil die Vorschrift die schon damals herrschende Praxis eigentlich untersagte, bestätigte das Gericht nicht. „Der konkrete Anlass für die Anpassung lässt sich anhand der hier vorhandenen Informationen nicht mehr aufklären“, teilte das Gericht mit. Auch Befragungen von seinerzeit schon amtierenden Richtern hätten nichts ergeben.

Die alte Geschäftsordnung galt seit Mitte der achtziger Jahre. Wohl auch in dieser Zeit bildete sich die Gepflogenheit, Mitglieder der „Justizpressekonferenz“ vorab ins Vertrauen zu ziehen. Alle Beteiligten hielten die Praxis verborgen, nur jeweils neu Hinzukommende wurden eingeweiht. 2013 schien das aus beiden Senaten zusammengesetzte 16-köpfige Plenum des Gerichts das gängige Verfahren bei der Medienarbeit dennoch skeptisch zu beurteilen. Es bestehe Einigkeit, heißt es in einem Sitzungsprotokoll, „dass Privilegien der Justizpressekonferenz vermieden werden sollen“.

2014 war davon wohl keine Rede mehr. Als der Tagesspiegel 2020 erstmals über die Besonderheit der Karlsruher Vorab-Informationen berichtete, befasste sich das Plenum erneut mit seiner Pressearbeit. Der damals noch amtierende Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle und sein Vize Stephan Harbarth – heute selbst Präsident – kamen überein, an der Praxis trotz öffentlicher Kritik festzuhalten und es gegebenenfalls auf einen Rechtsstreit ankommen zu lassen. Das Protokoll der Sitzung vermerkt dazu, der Vorschlag des Präsidiums finde im Plenum „allseitige Zustimmung“.    

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