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In Baden-Württemberg steht ein Machtwechsel an: Wie Cem Özdemir gegen die eigene Partei eine Wahl gewinnen will
Der Grünen-Politiker will das einzige Ministerpräsidentenamt der Partei verteidigen. In Umfragen liegen die Grünen zurück. Seine Strategie: maximale Abgrenzung von der Partei. Kann das gut gehen?
- Julian Olk
- Silke Kersting
Stand:
Gut 600 Kilometer von der Parteizentrale in Berlin entfernt sind die Schuldigen schnell ausgemacht. „Im Moment sind die Umfragen nicht gerade blendend“, stellt der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer fest. „Aber das ist nicht deine Schuld“, sagt Fischer an seinen Nebenmann gerichtet. „Das liegt an den Bundesgrünen.“
Sein Nebenmann: Cem Özdemir. Die beiden sitzen auf einer Holzbank auf dem Weingut Rux bei Stuttgart. Hier haben sie sich zusammengefunden, um eine neue Biografie über Özdemir vorzustellen, die an diesem Mittwoch erscheint. Allerdings steht vor Özdemir kein Wein-, sondern nur ein Wasserglas. Es ist nicht die Zeit für Weingenuss, Nüchternheit ist angesagt.
Der Ex-Bundeslandwirtschaftsminister, Ex-Grünen-Chef und Ex-Europaparlamentarier steht vor entscheidenden Wochen. Özdemir „wird sein Meisterstück abliefern müssen“, schreibt Fischer im Vorwort der Biografie. Am 6. März bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg soll es ihm gelingen, die Villa Reitzenstein in Stuttgart zu verteidigen und damit als Ministerpräsident im Ländle die Macht der Grünen zu sichern.
Seit 2011 regiert hier Winfried Kretschmann, erster und bisher einziger Regierungschef der Grünen eines deutschen Landes. Der 77-Jährige ist der Ministerpräsident mit der längsten Amtszeit in der Geschichte Baden-Württembergs. Kretschmann kam einst mit klar grünen Positionen an die Macht. Aber er sicherte diese über die vielen Jahre in der konservativ geprägten Gegend vor allem damit, immer bürgerlicher zu werden.
Der Weg für Özdemir ist entsprechend weit. Seine Zeit als Landwirtschaftsminister in der Ampel haftet an ihm. Es war die Phase, in der die Grünen bundesweit in der Beliebtheit abstürzten, in der sich das abgeschüttelt geglaubte Image der Verbotspartei wie nie zuvor auf sie legte.
Spitzenkandidat der Abgrenzung
Wie Kretschmann fremdelte auch Özdemir schon immer mit den Eigenheiten seiner Partei. Jetzt, angesichts des Wahlkampfs, wird dieses Fremdeln zur Strategie. Der gebürtige Schwabe will ausgemacht haben, wie er Ministerpräsident in seiner Heimat werden kann: mit maximaler Abgrenzung zur eigenen Partei, habituell und programmatisch, bei der Migrationspolitik genauso wie bei der Autoindustrie.
Die Ausgangslage scheint diese Taktik durchaus herzugeben. In den Umfragen liegen die Grünen in Baden-Württemberg weit zurück. Zwischenzeitlich war die CDU fast doppelt so stark.
Den Wählern klarzumachen, dass ich es bin, der für Baden-Württemberg zur Wahl steht, ist jetzt die wichtigste Aufgabe.
Cem Özdemir (Grüne), Ministerpräsident für Baden-Württemberg in spe
Der Rückstand ist weiter groß, aber zuletzt näherten sich die Werte an. Infratest Dimap sieht die Grünen derzeit bei 20 Prozent, die CDU bei 29 Prozent. Und wenn einer die Aufholjagd schaffen kann, so die Hoffnung, dann Özdemir. Würde der Ministerpräsident per Direktwahl gewählt, würden laut Infratest 41 Prozent für Özdemir stimmen – und bloß 17 Prozent für seinen Kontrahenten Manuel Hagel von der CDU.
Entsprechend strotzt Özdemir vor Selbstbewusstsein. Als er sich am Dienstag telefonisch beim Handelsblatt meldet, kommt er gerade aus einem Gespräch mit Betriebsratsvertretern. „Offen“ sei der Ausgang der Wahl: „So nehme ich die Stimmung im Land wahr, wenn ich unterwegs bin.”
Er erlebe viel Zuspruch, die Lücke zwischen seinen Umfragewerten und denen seiner Partei sei noch zu schließen: „Den Wählern klarzumachen, dass ich es bin, der für Baden-Württemberg zur Wahl steht, ist jetzt die wichtigste Aufgabe.“
Es gelte: Erst das Land, dann irgendwann die Partei und ganz am Schluss die Person. Was natürlich nur zu zwei Dritteln stimmt.
Eigentlich würde Özdemir wohl sagen wollen: Erst das Land mithilfe der Person, dann irgendwann die Partei. Politikwissenschaftler Michael Wehner sieht das Rennen noch nicht als gelaufen. Özdemir stehe für eine baden-württembergische Erfolgsgeschichte: „Das gefällt vielen.“
Weiter Weg und grüner Gegenwind
Doch der Weg ist weit. Es sind nicht einmal vier Monate bis zur Wahl am 8. März 2026. Schmilzt der Rückstand der Grünen auf die CDU im bisherigen Tempo weiter, würde das nicht reichen. Und es ist keineswegs ausgemacht, dass er überhaupt schmilzt.
Cem, verlier’ nicht die Nerven.
Joschka Fischer, Grüne, an Cem Özdemir gewandt
Wehner, Chef der Landeszentrale für politische Bildung in Freiburg, hält es für einen Fehler, dass Özdemir nicht zur Mitte der Legislatur den Stab von Kretschmann übernommen hat. Dazu werden mehrere Geschichten erzählt, einerseits, dass Kretschmann selbst nicht weichen wollte. Andererseits, dass die CDU als Koalitionspartner in der Kretschmann-Regierung den Wechsel nicht mitgemacht hätte.
Und dann sind da noch die eigenen Reihen. So unangefochten Özdemir in Baden-Württemberg ist, so umstritten ist er es mit Blick auf die Gesamtpartei. Vor allem dem traditionell stark links geprägten Berliner Landesverband gefällt gar nicht, was Özdemir in Stuttgart und Umgebung treibt.
Zwischenrufe aus Berlin gegen seine Positionen ist Özdemir gewohnt. Aber sie dürften noch gewaltig mehr werden. Schließlich wird in der Hauptstadt im kommenden Jahr ebenfalls gewählt. Und das Nasenrümpfen geht weit über den Berliner Landesverband hinaus, teilweise bis in die obersten Etagen der Grünen.
Das ist kein von außen herbeigeschriebener Pessimismus, er kommt von Fischer höchstpersönlich. „Die grüne Partei und ihr aktuelles bundespolitisches Spitzenpersonal hinterlassen nun nicht gerade den Eindruck, als wenn von der Bundesebene in den kommenden Monaten politischer Rückenwind erwartet werden dürfte“, schreibt er im Vorwort zur Özdemir-Biografie.
Özdemir und die Autofrage
Das Grünste an Özdemir ist vermutlich sein Fahrrad. Unvergessen sind die Bilder, wie er damit zur Vereidigung als Bundeslandwirtschaftsminister vor dem Schloss Bellevue vorfuhr. Und doch hat Özdemir einen Weg gefunden, das in einem bürgerlichen Antlitz erscheinen zu lassen: Sein Elektrofahrrad sei mit einem Motor von Bosch ausgestattet, dem Traditionskonzern aus dem Ländle.

© imago images/Frank Ossenbrink
Özdemir hält sich bei vielen Themen für glaubwürdig – aber ganz besonders bei der Zukunft der Automobilindustrie. Es war seine Idee als Parteivorsitzender, den damaligen Daimler-Chef Dieter Zetsche zum Bundesparteitag im November 2016 in Münster einzuladen – alles andere als zur Freude vieler Parteigenossen.
Özdemir spricht gern von ökologischer Vernunft. Er ist für Klimaschutz, aber dann doch ganz anders als viele andere Grüne. „Das Auto der Zukunft ist elektrisch, aber wir müssen die Leute mitnehmen“, sagt er. Da kommt er durch, der Pragmatiker, der nichts dagegen hat, wenn das Verbrenner-Aus für Neuwagen einige Zeit später als 2035 kommt, so wie es in der EU eigentlich vereinbart war.
„Am Ende ist nicht entscheidend, ob wir bei 2035 für Neufahrzeuge eine Punktlandung machen, es ein Jahr früher oder später schaffen“, hatte der Möchtegern-Ministerpräsident beim Besuch des Audi-Werks in Neckarsulm Anfang September gesagt und hatte damit ordentlich Trubel in der eigenen Partei ausgelöst.
Katharina Dröge, Chefin der Bundestagsfraktion, versuchte später noch, den Widerspruch zu Özdemir zu überdecken – doch das ging gewaltig schief. In der ARD erklärte sie, es ginge ja tatsächlich nicht um ein Jahr. Was sie meinte: Leuten wie CSU-Chef Markus Söder ginge es nicht um ein Jahr. Was ankam: Wie Özdemir ist Dröge offen für eine Verschiebung.
Schon am Tag danach musste Dröge das richtigstellen, letztlich mit einem Antrag der gesamten Fraktion, mit einem Bekenntnis zu 2035 – was den Widerspruch zwischen Özdemir und den Bundesgrünen deutlicher denn je machte. Der Fall zeigt, wie schwierig demonstrierte Einigkeit zwischen Özdemir und den Bundesgrünen selbst dann ist, wenn die Beteiligten sich gar nicht widersprechen wollen.
Komplexes Verhältnis zum Parteivorstand
Bei den Grünen wissen sie, Özdemir wird sich in seinem Kurs nicht aufhalten lassen. Manche behaupten gar, dass Stuttgart und Berlin sich fleißig voneinander abgrenzen, würde das jeweilige Profil schärfen. Aber klar ist auch: Die Leute wählen nicht bloß einen Kandidaten, sie bilden sich einen Teil ihrer Meinung immer im Gesamtkontext. Für Özdemir ist nur die Frage: Wie sieht dieser Kontext aus?
Die Landesverbände und ihre Spitzenkandidaten brauchen keine klugen Ratschläge, sondern sollen die Beinfreiheit bekommen, die sie brauchen.
Felix Banaszak, Co-Bundesvorsitzender Die Grünen
Dabei kommt es für ihn nicht zuletzt auf die Spitze der Bundespartei an. In der Doppelspitze steht Franziska Brantner, Reala und selbst Baden-Württembergerin, eng an Özdemirs Seite. Aber öffentlich aussprechen kann sie das selbst auch nicht immer, sie muss als Vorsitzende schließlich auch die gesamte Partei bedienen.
Ihr Co-Vorsitzender Felix Banaszak, der neue Posterboy der Parteilinken, macht längst nicht immer einen Hehl daraus, sich an Positionen von Özdemir zu stören. Aber Banaszak weiß auch, dass Özdemir kaum eine Chance haben dürfte, wenn die Querschüsse von ganz oben kommen.
„Die Landesverbände und ihre Spitzenkandidaten brauchen keine klugen Ratschläge, sondern sollen die Beinfreiheit bekommen, die sie brauchen“, sagt Banaszak dem Handelsblatt, schiebt allerdings noch nach: „Sie tragen ja auch Verantwortung für das Ergebnis.“
Özdemir und die Migrationsfrage
Özdemir lässt kaum eine Gelegenheit aus, sich als Kind des Ländle und gleichzeitig als erster Minister mit türkischen Wurzeln zu präsentieren. „Unser Cem“, sagt Fischer, „spricht und ‚schwätzt‘ ein so schönes, astreines Schwäbisch, wie es nur ein ‚anatolischer Schwabe‘ kann“.
Doch trotz oder gerade wegen seines Migrationshintergrunds eckt Özdemir bei der Migrationspolitik am meisten an. Er steht für einen harten Kurs. Und vor allem für eine klare Sprache, die ihm hinter vorgehaltener Hand im linken Flügel auch schon manchen Rassismusvorwurf bescherte.
Was für eine Linie würde ein Ministerpräsident Özdemir also vertreten, frei denken, aber womöglich gefangen in Parteitagsbeschlüssen? In der durch Kanzler Friedrich Merz (CDU) losgetretenen Debatte um das „Stadtbild“ schien es zeitweise so, als rückten die Bundesgrünen flügelübergreifend in Richtung Özdemir.
Parteichef Banaszak veröffentlichte vor gut zwei Wochen einen bemerkenswerten Gastbeitrag, in dem er Merz scharf kritisierte – in dem er aber auch zugestand, es gebe „kriminelle Gruppen auch aus migrantischen Familien, die am Freitagabend Leute abziehen oder Frauen belästigen“. Das hätte auch von Özdemir kommen können, der Banaszaks „sehr differenzierten“ Beitrag lobte.

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Doch es dauerte nur einige Tage, da meldete sich der Vorstand der Bundestagsfraktion zu Wort. In einem Papier zum Stadtbild war von „Angsträumen“ keine Rede, stattdessen von der finanziellen Ausstattung der Kommunen, von maroden Turnhallen und geschlossenen Bibliotheken.
Ohne sie beim Namen zu nennen, schoss Özdemir im Gespräch mit dem Handelsblatt unmissverständlich gleichermaßen gegen Merz und gegen seine eigenen Leute: „Die einen verschließen die Augen und tun so, als hätten wir gar kein Problem, und auf der anderen Seite Leute, die den Eindruck erwecken, als seien Menschen mit Migrationshintergrund für jedes Problem in diesem Land verantwortlich.“
Blinder Fleck nach links?
Es sind Aussagen wie diese, die gerade im linken Flügel der Grünen Zweifel aufkommen lassen, ob Özdemir tatsächlich noch eine Chance hat. Baden-Württemberg mag auf dem Land konservativ geprägt sein. Aber dann sind da noch die Städte, vor allem Stuttgart und Freiburg. Die sind grün geprägt, aber jeder Prozentpunkt, den Özdemir dort an die Linkspartei verliert, könnte ihn am Ende gegen die CDU verlieren lassen.
Und wenn es um die Städte geht, klingt Özdemir plötzlich ziemlich bundesgrün. „Wer will, dass sich was tut bei bezahlbaren Mieten, beim Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, bei Innenstadt-Belebung und Kulturangeboten – der ist bei uns gut aufgehoben“, sagt Özdemir und klingt dabei fast ein bisschen wie Ricarda Lang.
Cem kann auf jeden Fall gewinnen.
Ricarda Lang, Grüne, ehemalige Parteichefin
Man hört es am Dialekt, aber von den Positionen her würde man es kaum glauben: Die Ex-Parteichefin kommt auch aus Baden-Württemberg. Und Lang könnte für Özdemir der Schlüssel in den Städten sein. Sie unterstützt ihn, trotz aller inhaltlichen Differenzen.
„Cem kann auf jeden Fall gewinnen“, ist Lang überzeugt. Es gehe um Vertrauen, sagt sie dem Handelsblatt: „Das gilt auf dem Land und auch in den größeren Städten – denn dort ist vielen klar, dass es darum geht, ob wir einen Ministerpräsidenten haben, der in die Zukunft schaut, oder die CDU den Rückschritt organisiert.“
Für Özdemir sind die nächsten Wochen kaum absehbar, alles kann passieren. Gewinne nach rechts und links, Verluste ebendort. Eine Partei, die sich demonstrativ hinter ihn stellt, oder umso mehr gegen ihn.
Wenn „seine Partei ihn lässt und ihm folgt, und je mehr der Wahlkampf sich auf die Person zuspitzt, desto größer werden seine Chancen sein“, sagt Fischer, der einst selbst mit der Abkehr klassisch grün-pazifistischer Positionen reüssierte, der aber einen Erfolg auch für „sehr sehr schwer“ hält.
Als die beiden auf dem Weingut Rux sitzen, hat das Grünen-Urgestein den vielleicht noch wichtigsten Rat an Özdemir: „Cem, verlier’ nicht die Nerven.“
(Dieser Artikel erschien zuerst im Handelsblatt)
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