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Menschen genießen am Landwehrkanal in Berin-Kreuzberg die Sonne.

© dpa/ Christophe Gateau

Was bringt der nächste Corona-Gipfel?: Die Politik darf sich jetzt nicht von Stimmungen treiben lassen

Das große Frühlingserwachen wird es wohl nicht geben. Bund und Länder müssen sich der Zumutung stellen, geweckte Hoffnungen zu enttäuschen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Ist auf die Vernunft der Regierungen in Bund und Ländern noch Verlass oder lassen sie sich von Stimmungen treiben? Sie haben angekündigt, unter welchen Bedingungen sie den Bürgern ihre Freiheiten Schritt für Schritt zurückgeben können, vom Einkaufen über Sport und Kultur bis zum Reisen.

Angela Merkel, Olaf Scholz, Markus Söder und Michael Müller bemühten nach dem letzten Coronagipfel große Worte. Berechenbarkeit schafft Vertrauen. Die Menschen wollen planen und müssen wissen, was sie erwartet. Eine handliche Grafik zeigte die Details der fünf Öffnungsschritte vom 1. März bis in den April – aber auch die Inzidenzwerte, die nötig sind, damit die Lockerungen wie geplant erfolgen.

Nun stehen die Deutschen vor einem Riesenproblem. Die Inzidenzwerte sind vielerorts nicht unter 50 gesunken, was doch die Bedingung für weiteres Öffnen war. In einigen Regionen liegen sie bereits über 100.

Das verändert die Psychologie der verheißenen Berechenbarkeit. Die Hoffnung auf Erleichterungen wendet sich in Ärger, weil es für die meisten wohl nichts wird mit dem Frühlingserwachen: endlich wieder im Freien vor dem Cafe oder Wirtshaus sitzen, nach Herzenslust in Geschäften stöbern, Konzerte besuchen, zu Ostern verreisen.

Der Zoo in Osnabrück ist schon wieder zu - wie so viele Sehnsuchtsorte. Das Totenkopfäffchen dort kann seine Berechnungen unbeobachtet und unabhängig von der Inzidenz fortsetzen.
Der Zoo in Osnabrück ist schon wieder zu - wie so viele Sehnsuchtsorte. Das Totenkopfäffchen dort kann seine Berechnungen unbeobachtet und unabhängig von der Inzidenz fortsetzen.

© dpa

Ginge es nach der Verlässlichkeit, die die Basis des Vertrauens in die Regierenden sein soll, müssten sie das Öffnen stoppen und Lockerungen zurücknehmen. Nach dieser Logik gilt: Nicht zu öffnen, schafft Vertrauen.

Das Vertrauen in die Regierung sinkt

Haben sie die Kraft zu dieser Zumutung? Die Stimmung ist ohnehin eher Moll als Dur, die Umfragekurven weisen nach unten. Im Dezember fanden 69 Prozent die Coronamaßnahmen angemessen – trotz des Weihnachts-Lockdowns –, im Januar 53, im Februar 51 Prozent. Jetzt sind es nur noch 47 Prozent.

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Die Gründe für den Vertrauenseinbruch sind vielfältig. Viele sind mit der Geduld am Ende. Beim Impfen und Testen, der wirkungsvollsten Voraussetzung für eine verlässliche Öffnungsstrategie, hinkt Deutschland hinterher. In der ersten Welle wurde es noch für sein Krisenmanagement bewundert. Union und SPD beharken sich, als regierten sie nicht gemeinsam. Die Raffgier-Skandale Einzelner belasten den Ruf der Politik. So wächst die Versuchung, dem Volk nicht noch mehr zuzumuten.

Soll man die Beschlüsse und die Zahl 100 kegeln?

Parallel wird die Aussagekraft der Inzidenzwerte angezweifelt. Wenn mehr getestet werde, so der Argwohn, steigen die eben; das allein sei kein Hinweis, dass die Lage außer Kontrolle gerate.

Sollen Bund und Länder also die gefassten Beschlüsse und die steigende Inzidenz ignorieren und die Folgen der Zahl 100 kegeln – so wie sie zuvor erst die 35 und dann die 50 gekegelt haben?

Bloß nicht! Die Autorität der Regierenden und das Vertrauen in sie hängen von Gradlinigkeit und Glaubwürdigkeit ab. Bisher haben sie in enger Abstimmung mit den Wissenschaftlern gehandelt. Die mögen in Detailfragen verschiedener Meinung sein. Soll man das Impfen mit Astrazeneca wegen weniger ungeklärter Todesfälle unterbrechen oder nicht? Wie viel Präsenzunterricht in Schulen ist richtig?

Zu Führung gehört: Sagen, was nicht geht

In der generellen Einschätzung, ob man bei Inzidenzwerten über 100 weiter öffnen kann, sind die Fachleute ziemlich einig. Das wäre viel zu riskant.

Führung heißt, den Menschen gerade dann Zuversicht zu geben, wenn die Stimmung in den Keller sinkt. Und das Wir-Gefühl zu stärken: das Bewusstsein, dass wir gemeinsam Verantwortung für Mitmenschen tragen, die besonders gefährdet sind, und wir diese Krise nur gemeinsam überwinden. Ein Ende der Unwägbarkeiten können die Regierenden nicht versprechen. Aber um Vertrauen werben, dass sie tun, was nötig ist, um Schaden abzuwenden.

Da die Dinge nicht laufen wie erhofft, müssen sie sich der Zumutung stellen, Hoffnungen, die sie geweckt haben, zu enttäuschen. Diese Aufgabe würde leichter, wenn sie zugleich sagen, wie Deutschland den Stau beim Impfen auflösen will.

Angesichts bedrohlich steigender Inzidenzwerte darf die nächste Bund-Länder-Konferenz sich nicht mit der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner begnügen. Denn die führt ins größte gemeinsame Chaos.

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