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Werner Gatzer, Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen und zuständig für den Bundeshaushalt.

© Mario Heller/Tagesspiegel

100 Tage Ampel-Koalition und Putins Krieg: Wie zwei „Maschinisten der Macht“ grübeln und gegensteuern

Werner Gatzer muss seine Etatpläne über den Haufen werfen. Jochen Flasbarth hadert, warum Putin diesen Weg gegangen ist. Zwei Staatssekretäre im Krisenmodus.

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Es ist der Tag des Kriegsbeginns, Weiberfastnacht, eigentlich feiert Werner Gatzer an diesem Tag den Beginn des Karnevals. Doch Wladimir Putin stellt auch die Pläne des Chef-Haushälters der Bundesregierung auf den Kopf – und verkompliziert die ersten Etatgespräche der Ampel-Koalition. Gatzer, seit 1982 SPD-Mitglied, ist ein Phänomen, er hat als Staatssekretär bereits Ministern mit drei verschiedenen Parteibüchern gedient. Allein das zeigt seine Stellung. Wenn er bis 2024 im Amt bleibt, wird er sogar Otto Schlecht überholen, der von 1973 bis 1991 rund 18 Jahre unter acht Wirtschaftsministern und drei Kanzlern Staatssekretär im Wirtschaftsministerium war.

Keinen Kilometer entfernt ist auch ein anderer Staatssekretär sehr nachdenklich in diesen Tagen, Jochen Flasbarth. Er war zuvor Umwelt-Staatssekretär, galt im Haus schon als Russland-Versteher, der bei Umwelt- und Klimaprojekten immer auch um Kooperation mit Moskau gerungen hat. Nun ist er in gleicher Position im Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit. Es gilt, verstärkt Projekte für all die von Russland bedrohten Staaten anzuschieben.

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Die ersten 100 Tage der Ampel-Koalition - Stichtag ist der 18. März - hatten sich beide so nicht vorstellen können. Sie eint, dass sie mit kühlem Kopf und Erfahrung versuchen, den Maschinenraum der Macht in schwerer Zeit am Laufen zu halten.

An der Bürotür im Bundesfinanzministerium ist ein goldenes Messingschild angebracht, „Werner Gatzer, Staatssekretär“.

Seinen ersten Entwurf für den Verteidigungsetat konnte er nach jenem 24. Februar vergessen, hier soll nun jedes Jahr deutlich draufgesattelt werden, dazu 200 Milliarden Euro für die Energie- und Klimawende bis 2026, auch um von russischem Öl und Gas loszukommen.

Der Herr der "Schwarzen Null" muss noch mehr Schulden machen

Der Beschluss für den Haushalt 2022 soll diesen Mittwoch im Kabinett fallen. Zu knapp 100 Milliarden neuen Schulden und den 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr soll noch ein Ergänzungshaushalt "Ukraine" kommen; mit den Ausgaben für vor dem Krieg geflüchtete Menschen und Milliardenentlastungen bei den Energiepreisen. Lange Tage, harte Verhandlungen für Gatzer. Erstaunlich, wie er trotzdem in sich selbst ruht.

Im Vorzimmer hängt ein Bild, Gatzer mit seiner Frau auf dem Gipfel des Kilimandscharo. Bei minus 20 Grad sind sie hochgestiegen, auf 5895 Meter Höhe hat er am Gipfel einen Schal des 1. FC Köln ausgerollt. Sein rheinisches Gemüt hilft ihm, nicht schwarz zu sehen (Artikel 3 des kölschen Grundgesetzes: „Et hätt noch emmer joot jejange“).

Staatssekretär unter SPD-, CDU- und FDP-Ministern

Die Gelassenheit versucht er auch den vielen Neuen in dieser Koalition zu vermitteln. Er diente unter Peer Steinbrück (SPD) in der Finanzkrise, Wolfgang Schäuble (CDU) behielt ihn, Gatzer wurde zum Architekten der „schwarzen Null“. Nach einem zweimonatigen Ausflug zur Deutschen Bahn holte ihn Olaf Scholz (SPD) 2018 nach dem Jamaika-Scheitern zurück in das Finanzministerium. Dann kam die Pandemie, die schwarze Null war passé und Gatzer musste einen Haushalt mit der höchsten Neuverschuldung auf den Weg bringen. Als Scholz Kanzler wurde, behielt auch FDP-Chef Christian Lindner den Herren der Zahlen – obwohl ein Roter. Wie der „Spiegel“ berichtet, soll Schäuble Lindner dringend dazu geraten haben.

Wie schafft man das? „Ich versuche zu überzeugen.“ Loyalität sei unabdingbar, laut wird er selten, aber er hat schon mal einen Staatssekretär wegen Uneinsichtigkeit bei Etatverhandlungen rausgeschmissen – er achtet da auch nicht auf das Parteibuch, ihm geht es um die Sache. „Am Ende entscheidet der Chef, ich nehme es auch nicht persönlich, wenn er nicht meinem Rat folgt.“ Aber er ist auch keiner, der dem Minister sagt, was der hören will – und er gilt als harter Hund beim Verhandeln.

"Ich bin noch ein Papier-Besessener"

In seinem Büro hat er die Aktenkladden mit all den Etatwünschen und Tabellen liegen, fein säuberlich nach Ressorts abgeheftet, Eselsohren gibt es hier nicht. Alles sehr akkurat. „Ich bin noch ein Papier-Besessener“, sagt Gatzer. Drei Tage nach dem Treffen wird Kanzler Olaf Scholz im Bundestag ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr verkünden, verankert im Grundgesetz.

Die Idee mit diesen Sondervermögen hat auch der Haushalts-Handwerker Gatzer mitgeboren. Es gibt schon den Energie- und Klimafonds, der mit 60 Milliarden Euro gefüllt wird. Er kennt sich mit solchen Nebenhaushalten aus, hat immer eine Idee, wie sich Probleme in dieser Dreier-Koalition im Haushalt auflösen lassen. Es wird versucht, alles an neuen Schulden ins Jahr 2022 reinzupacken – die FDP mit Finanzminister Christian Lindner pocht darauf, dass die Schuldenbremse ab 2023 wieder eingehalten wird.

Ist die Schuldenbremse 2023 noch zu halten?

Doch ist nicht ein Krieg ein Ausnahmetatbestand wie eine Pandemie? „Es ist deutlich verfrüht, solche Diskussionen zu führen“, sagt Gatzer. Aber die Debatte wird kommen. Zum Sondervermögen betont er: „Es kann nicht ausreichen, ausschließlich mehr Geld in die Bundeswehr zu investieren. Ich denke, dass wir auch Strukturen insbesondere bei der Beschaffung verändern müssen.“

Will heißen: Es müssen schneller Ausrüstung und Waffen eingekauft werden.

Gatzer hat im Januar zu Beginn der Beratungen den anderen Ampel-Staatssekretären die Lage skizziert, geschätzte Steuereinnahmen, Ausgaben, Wirtschaftswachstum. Man muss jetzt immer sagen: Vor dem Krieg.

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Vor dem Krieg war die Lage eine andere

Schon das war ein Rendezvous mit der Realität; ein Ritual, das alle schweigend zur Kenntnis genommen haben. Aber später in den Einzelgesprächen versucht jeder dann für sein Haus möglichst viele Milliarden zusätzlich herauszuholen. Durch die Pandemieausgaben hat Gatzer das Problem, dass Maßstäbe verrutschen, eine Milliarde scheint heute den Stellenwert von früher 100 Millionen zu haben, die Etatwünsche lagen zunächst um 400 Milliarden Euro über Gatzers Finanzplanung. Und jetzt wollen viele noch eine Spritpreisbremse.

Um den Haushalt im Rahmen zu halten, hat er das Top-Down-Verfahren eingeführt – eine Art Generalsteuerung, so schaffte er auch die wiederholte schwarze Null. Er macht jedem Ressort Vorschläge für den neuen Etat und priorisiert Ausgaben.

Das Problem des Koalitionsvertrags von SPD, Grünen und FDP aber ist, dass hier die Projekte nicht priorisiert wurden, um Konflikte zu vermeiden. Nun will jedes Ressort möglichst viele Projekte gerne schon im ersten Jahr anschieben, am liebsten die teuersten. Aber die Annahmen zum Wirtschaftswachstum müssen wegen Putins Krieg nach unten korrigiert werden.

Bei allen Sorgen – die Ampel-Koalition findet er spannend. Viele, die mit ihm verhandeln sind 20 Jahre jünger, es gibt neue Sichtweisen. Aber für ihn ist eines klar geworden: Verhandlungen in Präsenz sind viel zielführender.

Jochen Flasbarth, früher Umwelt-, nun Entwicklungshilfe-Staatssekretär. Er schätzt den Aufbruchsgeist der Ampel-Koalition.

© Mario Heller/Tagesspiegel

Jochen Flasbarth und sein mitwandernder Schreibtisch

In Jochen Flasbarths Büro im 9. Stock in der Berliner Stresemannstraße steht ein ovaler Schreibtisch aus rustikaler Eiche, der ihn seit vielen Jahren begleitet. 2003 wurde er gekauft, als er noch beim Nabu war, 2003 bis 2009 war er Abteilungsleiter im Bundesumweltministerium, dann Präsident des Umweltbundesamtes in Dessau, auch hierhin begleitete ihn der Schreibtisch jeweils.

2013 wurde er Umwelt-Staatssekretär, nun ist er mit Ministerin Swenja Schulze (SPD) in gleicher Funktion ins Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mitgegangen. Samt des Schreibtisches. Und dem kleinen Holzhammer, mit dem die Entscheidungen bei der Weltklimakonferenz 2015 in Paris besiegelt worden sind, als es zum Weltklimavertrag kam.

Flasbarth war deutscher Chefunterhändler. „Pour Jochen“, hat der damalige Konferenzchef und französische Außenminister Laurent Fabius handschriftlich auf den Stiel des Hammers geschrieben. Es war ein Höhepunkt des Multilateralismus, auch Russland war dabei.

„In einer multilateralen Welt gibt es überhaupt keine Alternative dazu, als miteinander zu reden“, sagt Flasbarth. „Deshalb habe ich mit Russland eine sehr intensive Zusammenarbeit auch aus dem Umweltministerium heraus betrieben. Natürlich in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt, um über die Themen Klima, Naturschutz, Abfall- und Wasserwirtschaft Gesprächskanäle offen zu halten.“

"Damals waren viele Putin-Fans"

Das Dramatische sei ja, dass Russland seinen Platz in einer europäischen Friedensordnung gehabt hätte. „Putin hätte alle Möglichkeiten gehabt, wenn man sich daran erinnert, die Rede, die er im Bundestag gehalten hat.“

Er habe auf Deutsch Goethe zitiert, in der deutschen Bevölkerung waren damals viele Putin-Fans, „der Mann hatte dieses Land für sich gewonnen“. Flasbarth vertritt die These, dass es für Putin damals eher möglich gewesen wäre, ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Russland hinzubekommen als für die USA eines mit der EU. „Wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen in der Regierung spreche, diese Wucht, dieses kaltblütige Belügen der Weltgemeinschaft, das hat in dieser Dimension keiner erwartet.“

Doch so wie Gatzer ist Flasbarth keiner, der jetzt resigniert, gleich im Anschluss hat er ein Gespräch zu Umweltprojekten in Ghana. Die Regierungsmaschine muss immer weiter laufen, nun braucht es erst recht eine Unterstützung der noch verlässlichen Staaten.

Fast zwei Milliarden für die Ukraine

„Ich bin Jahrgang 62, diese Erzählungen aus dem Krieg, Flucht, im Keller sitzen, Angst vor Luftangriffen, das haben wir als Kinder ja mitgekriegt. Ich habe mit dem Fall des Eisernen Vorhangs gedacht, ich kann wieder in einer angstfreien Welt leben“, sagt Flasbarth. Rund zwei Milliarden Euro hat Deutschland der Ukraine an Hilfen seit 2014 zukommen lassen, auch für Flasbarth werden sich nun Prioritäten verschieben. Eine seiner Folgerungen ist, dass „wir die Verteidigung, die militärischen Fähigkeiten brauchen, wenn wir erfolgreich sein wollen mit zivilem Engagement“.

Eine Regierung ohne Nickligkeiten - bisher

Und wie nimmt er in diesen ersten 100 Tagen die Ampel-Koalition wahr? „Die alte Regierung war erschöpft, kraftlos. Wir sind jetzt in einer Situation, wo man die Gemeinsamkeiten neu entdeckt.“ Die meisten kennen sich schon lange, vor allem im SPD- und Grünen-Lager, das hilft bei Absprachen. „Diese Regierung kann das schaffen, weil es diese Nickeligkeiten zum Glück bisher nicht gibt.“

Etwa, dass bei Klimaschutz und Energiewende vom Wirtschaftsminister bis zum Kanzler und dem Finanzminister alle das wollen – und es nicht mehr die elenden Blockaden zwischen den Ministerien wie in der großen Koalition gebe. Diesen gemeinsamen Geist gebe es auch in der Entwicklungspolitik. „Um den Kanzler beim Wort zu nehmen, es geht um Respekt, Respekt vor Menschen in Afrika, in Südostasien, denen es nicht so gut geht wie uns.“

Der Marsch der hungernden Frauen

Flasbarth hat mit Gatzer schon um manchen Haushalt gefeilscht. „Wir schätzen uns.“ Beide vermitteln den Eindruck: Die Regierung ist ein ruhender Pol – auch in schwierigen Zeiten.

Beim Rausgehen bleibt der Blick an dem einzigen großen Gemälde in Flasbarths Büro hängen, „Marsch der hungernden Frauen in Lodsz“ von Ryszard Wasko, ausgerechnet postsowjetische Kunst. Ein Schwarz-Weiß-Bild, übersät mit roten Flecken, jeweils eine der demonstrierenden Frauen kennzeichnend. Irgendwie erinnert es in diesen Tagen auch an das Leid und den großen Kampfesmut der Ukrainerinnen und Ukrainer.

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