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Jens Spahn (CDU), Bundesminister für Gesundheit, hat pathetische Worte gewählt.

© Michael Kappeler/dpa

„Wir werden einander verzeihen müssen“: Warum Jens Spahn mit diesen ungewöhnlichen Worten richtig liegt

Je länger die Corona-Krise dauert, umso größer werden Misstrauen und Ungeduld in der Gesellschaft. Dabei brauchen wir gerade eines: Verständnis. Ein Kommentar.

George W. Bush steht in den Trümmern des World Trade Centers und dankt den Rettungskräften. Das war vier Tage nach 9/11, als Terroranschläge die erste globale Krise dieses Jahrhunderts verursacht hatten. Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück versprechen den Deutschen: „Ihre Einlagen sind sicher.“ Das war im Herbst 2008, als die Folgen der weltweiten Finanzkrise unabsehbar waren.

Welches Bild wird von der dritten globalen Erschütterung, der Corona-Pandemie, im Gedächtnis bleiben? Die Lagerhalle mit Särgen, die kilometerlange Schlange von Arbeitslosen zu Lebensmittelausgaben, Menschen mit Mundschutzmasken?

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Die Frage beantwortet jeder für sich. Für einige ist es vielleicht diese Sequenz: Gesundheitsminister Jens Spahn sagt während einer Regierungsbefragung ungewöhnliche Sätze. „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hätten Politiker „mit so vielen Unwägbarkeiten so tiefgehende Entscheidungen treffen müssen“. Nun ist meist Misstrauen angebracht, wenn Politiker pathetisch klingen. Doch manchmal wird man ihnen mit etwas weniger Voreingenommenheit etwas gerechter.

Merkel spricht von „Öffnungsdiskussionsorgie“

Das gilt in vielerlei Hinsicht. Je länger die Covid-19-Bekämpfungsdebatte anhält, desto vernehmbarer werden Untertöne und Mutmaßungen. Will die Regierung eine Bewegungs-App, um uns zu überwachen? Schränkt sie elementare Freiheitsrechte ein, um uns zu kontrollieren? Plädiert sie für Abstandsgebote und Kontaktsperren, weil ihr Wirtschaft und Wohlstand dieses Landes egal sind?

Absurditäten dieser Art schleichen sich zunehmend in den Diskurs, und in die Vorhaltungen mischt sich Ungeduld. Kein Wunder, dass selbst die Kanzlerin mit dem Begriff „Öffnungsdiskussionsorgie“ ihre Contenance verlor. Im Bundestag sagte sie wenig später, die Einschränkungen seien eine „demokratische Zumutung“. Wohl wahr, das sind sie!

Hintergründe zum Coronavirus:

Aber in Ausnahmesituationen müssen zeitlich befristete Zumutungen ebenso ausgehalten werden wie einige Quäntchen Willkür. Warum darf der Friseur öffnen und nicht das Restaurant? Warum dürfen Gottesdienste gefeiert werden und nicht Iftar, das gemeinsame Fastenbrechen im Ramadan?

Die Eindämmungsstrategie durchzusetzen, war angesichts der dramatischen Bilder aus Italien, Frankreich und Spanien relativ leicht. Ungleich schwieriger ist die Lockerung der Maßnahmen. Wer eine zweite Infektionswelle riskiert, riskiert eben auch, dass alle bislang erbrachten Opfer vergebens waren.

In Entscheidungen fließen Prognosen ein

Noch hilft ein Blick über den nationalen Tellerrand, um den deutschen Kurs gut zu begründen. Werden die Gefahren übertrieben? Man schaue in die USA, nach Großbritannien oder Indien. Funktioniert die Idee einer Herdenimmunität? Das schwedische Beispiel dient eher als Warnung. Können wir von Taiwan lernen? Was die Zahl der Tests anbelangt auf jeden Fall, das Maß an Überwachung indes würde vielen missfallen.

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Natürlich muss diskutiert werden. Alternativlos ist keine Politik. Eine verantwortbare Synthese zu finden aus den Pflichten für Leben und Gesundheit, Wirtschaft und Wohlstand, Freiheit und Datenschutz - das kann nur als Prozess gelingen, der ständig überprüft und reversibel gestaltet wird. Weil in viele Entscheidungen Prognosen einfließen, deren Grundlagen unsicher sind, kann es zu Irrtümern kommen.

Wir werden einander verzeihen müssen, hofft Spahn. Werden wir es können? Nur dann, wenn weiterhin für Verständnis geworben, Geduld geübt und Zuversicht genährt werden.

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