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70. Geburtstag: Wolfgang Schäuble: Aufhören kann er jetzt nicht mehr

Wolfgang Schäuble war der Architekt der Einheit, jetzt will er der für Europa sein. Freier denn je fühlt er sich, und der Rollstuhl hindert ihn immer weniger, je älter er wird. Am Dienstag wird er 70. Doch die Kanzlerin hält ihn, so wie er sie. Warum sollte er da aufhören?

Setzen Sie sich doch mal rein, sagt sie. Setzen sie sich rein in einen, und dann stellen Sie sich vor, wie das ist.

Das hat sie so gesagt, Ingeborg Schäuble. Es ist schon länger her. Und es klang energischer, als es gemeint war. Überhaupt, es gibt da eine Ambivalenz in ihrem Auftreten, eine interessante, eine zwischen Verletzlichkeit, auch Scheu auf der einen Seite und Entschiedenheit, ja Unerschrockenheit auf der anderen. Sagen wir so: Da sind die Augen und der Mund. Die sagen vieles aus.

Wenn sie das so sagt, kann man das dann machen? Ist das nicht – seltsam? Seltsam unangemessen? Eine Anmaßung? Ausprobieren, wie das so ist im Rollstuhl. Nachfühlen – schon das Wort erscheint hier fehl am Platz – wie das für ihn sein muss?

Da steht einer im Krankenhaus, ein Rollstuhl; er steht vor einem, und man setzt sich hinein. Und sitzt. Still. So lange es geht. Sitzt schwer. Und will dann plötzlich die Zehen bewegen, um sich zu fühlen. Den Ausweg zu spüren.

Den Ausweg hat er nicht, diesen nicht. Nur in seinen Träumen. In denen kann er laufen. Wie früher, vor dem Attentat, als sein Rückenmark noch nicht verletzt war. Als er noch Tennis und Fußball spielen konnte, Skilaufen mit der Familie. Es gibt da dieses Foto mit seinen Kindern im Schnee, die Familie als Schneepflug, eines hinter dem anderen und zum Schluss der Babba. So klingt es, wenn die Kinder von ihm reden. Noch heute, da sie erwachsen sind.

Der Babba. Der Wolf, die Kosekurzform für Wolfgang, obwohl Wolf ja auch anders verstanden werden kann. Aber der hier ist kein richtiger, höchstens knurrt er, wenn es um seine Familie geht, seine Kinder. Wie er sagt, dass er ja nichts sagen will, aber … Da soll mal keiner kommen. Er ist stolz und froh über seine Familie. Und wenn es mal nicht so ist, es sich nicht so fügt, nicht so glücklich läuft, dann können sie sich auf ihn verlassen. Er ist da. Wird immer da sein. Und sie sind da, wenn er ruft. Oder sagen wir so: Er braucht gar nicht zu rufen, sie kommen einfach, lassen alles stehen und liegen. Familienurlaube sind heilig. Das hat etwas anrührend aus der Zeit Gefallenes. Konservativ? Das auch, aber im Sinne von bewahren wollen.

Er ist es ja auch: aus der Zeit gefallen. So ein Typ Mensch, wo trifft man den schon noch? Er legt den größten Wert darauf, zu dienen. Aber einer Sache. Oder Deutschland. In seinem Dienen soll ihn niemand übertreffen. Ein Paladin wurde er jüngst wieder genannt. Der das sagte, weiß vielleicht nicht, dass es einerseits Beleidigung ist, andererseits Auszeichnung. Paladin, das ist ein mit besonderer Würde ausgestatteter Adliger, meist ein Ritter. So ist es in früheren Zeiten gewesen. Aber man könnte jetzt sagen: So ist sein Wesen. Ritter Wolfgang. Das klingt auch passend.

Dieser Rollstuhl. Er denkt nicht mehr immerzu an ihn. Jedenfalls will er es nicht immerzu tun, sich nicht fangen lassen, und der Wille ist sein Reich. Sein Wille ist gewaltig. Der Kopf ist sein Kosmos. In dem kann er fliegen, hoch fliegen, sich bewegen und allen anderen voranlaufen. Da ist er schneller als die anderen. Denke nur! Solche Gedanken machen frei. Er wird immer freier, je älter er wird. Je länger er im Rollstuhl sitzt.

Sein Lächeln hat sich auch verändert. Nach dem Attentat damals, in den 90er Jahren, das natürlich auch, weil es sein Gesicht ebenfalls getroffen hat, aber mit den Jahren jetzt wieder. Früher war es bübisch, ein bisschen spitzbübisch, als er Erster Parlamentarischer Geschäftsführer und dann Kanzleramtsminister war. Dann, später, nach den bitteren Erfahrungen und Stunden, als er nicht mehr CDU-Chef sein und deshalb auch nicht mehr Bundeskanzler werden konnte, als er nicht Bundespräsident wurde und nicht Regierender Bürgermeister von Berlin, da wurde es schmallippig. Da war er mehr Wolf als je, um es mal so zu sagen. Aber mit einem Zug von Resignation im Gesicht, mit einer traurigen Falte.

Er hätte der werden könne, der nie das Richtige wurde. Und dann wird er es vielleicht doch: Finanzminister! Wenn man ihn jetzt darauf anspricht, dann lächeln seine Augen, und das will etwas heißen. Badisch-genant, so war es einmal, war er einmal, jetzt wird er – nein, doch nicht etwa weise? Wer das sagt, den bedenkt er mit einem spöttischen Gesichtsausdruck. Er spottet seiner.

Womöglich ist das der tiefere Grund, warum Menschen, die ihn unsympathisch finden, ihm dennoch vertrauen: Er hat so viel erlebt, so viel gemacht, so viel geleistet, und jetzt scheint er auf eine Art weicher zu werden – eben weil man, weil er weitermachen kann. Keiner bremst ihn, Angela Merkel, die Kanzlerin auch nicht. Warum auch?

Mit Europa will er nicht scheitern

Sein Ehrgeiz, den er fraglos hat, geht über sein Amt, überhaupt über Ämter hinaus: Europa unumkehrbar zu machen, weil es den Deutschen so viel gibt und weil sie mehr als alle anderen verlieren, wenn es scheitert. Da gelten auch die Grundrechenarten, sagt er schlicht. Aber er will schon auch sein Versprechen erfüllen, nicht nur die deutsche Einheit zu gestalten, sondern die europäische Einigung. Das sagt er offen, immer wieder auch im Bundestag, und darum werden es immer weniger Abgeordnete, die ihn in dieser Hinsicht kritisieren.

Auf eine andere Art wird er damit zugleich entschiedener, härter. Mag er sich ansonsten als Sisyphos ansehen, der immer wieder von vorne anfängt – mit Europa will er nicht scheitern. Darum will er ja weitermachen, bis es nicht mehr geht. Der Anspruch, den er damit stellt, ist monumental. Und wenn er ihn erfüllt, diesen Anspruch, ist Europa sein Monument. Der Architekt der deutschen Einheit, der Architekt des Hauses Europa, das Bild wird ihm im Kopf herumgehen. Ihn beflügeln. Und lächeln lassen: Sein bester Freund ist Architekt. Sie wohnen inzwischen im selben Haus in Offenburg. Das der gebaut hat.

Aufhören kann er jetzt nicht mehr. Er hat sich doch so weit vorgewagt wie kein anderer, in dieser Regierung zumindest. Hat die Kanzlerin mitgezogen, er hat sich mit ihr verbunden und sie sich darauf, nach einigem Zögern, mit ihm. Da kann einer den anderen nicht einfach ziehen lassen. Er ist jetzt wieder Paladin, Ritter mit besonderer Würde, aber beugt sein Haupt nicht als Vasall, wie man es ihm zu Helmut Kohls Zeiten vorwarf. Er war Kohls Hofmarschall, sein Innenkanzler, immer loyal, stets zu Diensten. Sein Bruder Tom, selbst lange erfolgreicher CDU-Politiker, fand mal: zu lange, zu viel.

Nun baut Angela Merkel auf ihn, und er sagt schon mal spöttisch, dass sie ja werde wie Kohl. Er sagt es so, weil er weiß: Das wird sie nicht. Kohl wäre nie mit ihm im Kino gewesen. Sie schon, in „Ziemlich beste Freunde“. Frau Schäuble hatte den Film schon gesehen, da ist Merkel mit ihm gegangen. Und sie hatte ihn gefragt. Kohl hat immer geglaubt, Schäuble zu mögen. Merkel mag ihn wirklich, und ganz allmählich hat er gelernt, es zu glauben.

Also, warum dann aufhören? Sie können doch noch so viel gemeinsam anfangen. Verändern, bewegen, erreichen, das sind Worte, die zu ihm passen, und zu ihr. Gefunden hat sie Frau Schäuble. Selbst gemeinsam zu Kohl werden sie gehen, er und Merkel, zu dessen Kanzlerjubiläum in den nächsten Tagen. Er kommt zu Kohl, zu seinem ziemlich besten Feind. Wer hätte das gedacht. Er wahrscheinlich vor kurzem auch noch nicht. Das wird großes Kino. Bei der Gelegenheit wird Merkel fein lächeln. Die Kameraleute können sich schon freuen.

Und Kohl? Er kommt nicht zur offiziellen Geburtstagsfeier der CDU für den vormals besten Mann nach ihm, zu der er eingeladen war. Lapidar hat Kohl abgesagt. Das wirkt wie: Ober sticht unter, gewissermaßen. Nur wird Kohl, wo sie sich doch sehen, bei der Gelegenheit nicht mehr wie früher auf Schäuble herabblicken können, weder so noch so. Kohl sitzt jetzt auch im Rollstuhl.

Aber Kohls Zeit ist die Vergangenheit. Schäuble blickt unverdrossen in die Zukunft. Eine, die paradoxerweise Kohl immer vor sich gesehen hat, Schäubles Zukunft. Er wollte, dass Schäuble nach dem Attentat weiter Politik macht, er drängte ihn, fand den Rollstuhl nicht hinderlich. Das war allerdings, als Schäuble noch sein Minister war, sein Innenminister, nicht als Kanzler und Nachfolger im Gespräch. 1991 war das. 1997, nach Schäubles in der CDU berühmter Rede auf dem Parteitag in Leipzig, als mehr als 1000 Delegierte vor dem Jubel andächtig schwiegen, sagte Kohl, er wünsche sich, dass dieser Mann sein Nachfolger werde. Aber er sagte nicht, wann. Viele meinen, damit habe Kohl Schäuble unmöglich machen wollen. Nur wenige sagen, das stimme nicht. Und Kohl? Der würde auch öffentlich immer sagen, dass er es ernst gemeint habe.

Schäubles Zukunft? Es wird ein Leben mit Politik sein

Es kann sein, dass es ein großes Missverständnis ist. Ein ganz großes. Ein unaufgeklärtes. Womöglich wollte Kohl doch wirklich für Schäuble Platz machen, nach der Wahl 1994; bloß hatte er da nur eine Stimme Vorsprung, und es hätte schiefgehen können, für Schäuble, für die damalige schwarz-gelbe Regierung. Vielleicht ist es sogar wahr, dass Kohl glaubte, er könne 1998 noch ein Mal gewinnen, auch für Schäuble. Zuzutrauen wäre es ihm. Die Spendenaffäre hat sie entzweit, auch weil Schäuble ihn nicht verstand. Er, der Verstandesmensch, konnte das Gefühlige in Kohl nicht erfassen. Er rechnete nicht damit, dass Kohl in seiner Enttäuschung handeln würde wie einer, der sich zurückgestoßen fühlt. Der eine fühlte sich brüskiert, der andere gekränkt. Merkel, die beide kennt und beides kennt, ist wohl die Richtige für den Versuch, Schäuble und Kohl zusammenzubringen. Merkel, weil sie das Gefühlige, Situative und das Rationale in sich vereint, obwohl es Fliehkräfte sind. Es wäre ihre größte Tat als CDU-Chefin. Die Partei wünschte es sich doch so sehr.

Schäubles Zukunft? Es wird ein Leben mit Politik sein. Eines ohne gibt es auch, in den Abendstunden, mit Oper und Theater, aber nicht ohne Amt. Er bleibt ja Abgeordneter, in jedem Fall. Seit 1972 ist er in den Bundestag gewählt. Er wird der Alterspräsident sein, eine Rede zur Eröffnung des nächsten Bundestages halten. Eine große vermutlich. Und er wird seine Behinderung weiter nicht einmal ignorieren, obwohl sie ihm auf jedem Bild in der Öffentlichkeit vor Augen geführt wird, auf jedem Gipfeltreffen, auf jedem Gruppenfoto, bei jedem Empfang, wenn sich die Menschen hinunterbeugen.

Dieses Ignorieren wirkt inzwischen aber nicht mehr kalt, sondern Respekt einflößend, weil er daraus kein Martyrium macht, sondern einen Mythos: Der Mann, der durch Wände gehen kann. Der Mann, der seinem Traum folgt. Seinem politischen. Wen wundert’s, dass der amerikanische Finanzminister für ihn an seinen Urlaubsort in Deutschland reist?

Inzwischen amüsiert er sich darüber, dass sich die Menschen um ihn herum mit seinem Rollstuhl schwerer tun als er. Er macht sich nicht lustig über sie, das eben nicht, sondern dabei ein wenig über sich. Deshalb verzeiht man ihm zu seinem 70. Geburtstag sogar, dass er vor einiger Zeit noch richtig hochfahrend werden konnte. Auf öffentlicher Bühne. Als er seinen damaligen Sprecher für dessen Fehler büßen ließ.

Aber da gibt es ja noch seine Frau. Die so lange an seiner Seite ist, ist unerschrocken, was ihn betrifft. Sie durchdringt seine Härten, seine Momente der Enge. Sie hat ja auch durchlebt, wie er nach dem Attentat vom Tod bedroht war; wie er einen Lebensmoment lang nicht mehr wollte. Und sie kennt seine Scheu, mehr von sich preiszugeben; sie teilt mit ihm die Verletzlichkeit. Ingeborg Schäuble findet dann die richtigen Worte. Für ihn, in jeder Beziehung. Kein Wunder, dass Angela Merkel sie angerufen hat, um Wolfgang Schäuble zu halten.

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