zum Hauptinhalt
Ist das Kanzleramt doch noch nicht ihre letzte Station? Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beim EU-Sondergipfel zum Brexit.

© Stefan Rousseau/PA Wire/dpa

Zeitungs-Interview zu Europa: Merkel-Äußerungen heizen Spekulationen über Wechsel nach Brüssel an

Kanzlerin Merkel zeigt große Sorge um die EU - und betont ein gestiegenes Verantwortungsgefühl für Europa. Ob sie doch noch Brüssel-Pläne hegt?

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat mit Äußerungen über ihr gestiegenes Verantwortungsgefühl für Europa Spekulationen über einen Wechsel auf einen wichtigen EU-Posten angeheizt. In einem Interview der „Süddeutschen Zeitung“ (Donnerstag) kündigte Merkel an, sich künftig mit noch größerem Einsatz als bisher für die Zukunft Europas einzusetzen. „Viele machen sich Sorgen um Europa, auch ich. Daraus entsteht bei mir ein noch einmal gesteigertes Gefühl der Verantwortung, mich gemeinsam mit anderen um das Schicksal dieses Europas zu kümmern."

EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hatte kürzlich klar gemacht, dass er es für denkbar hält, dass Merkel nach ihrer Zeit als Kanzlerin eine Rolle auf europäischer Ebene übernimmt. „Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Angela Merkel in der Versenkung verschwindet“, sagte er Ende April der Funke Mediengruppe. „Sie ist nicht nur eine Respektsperson, sondern ein liebenswertes Gesamtkunstwerk.“ Mit Blick auf ein mögliches EU-Amt Merkels fügte er hinzu: „Hochqualifiziert wäre sie.“ In den Spekulationen wird Merkel meist als mögliche Nachfolgerin von EU-Ratspräsident Donald Tusk ins Spiel gebracht - auf dem Posten könnte sie als Vermittlerin ihre große Erfahrung einbringen.

Merkel: "Skepsis gegen das Prinzip Spitzenkandidat"

Weiterhin räumte Merkel im selben Interview ein, dass sie das Spitzenkandidaten-Prinzip bei der Europawahl nicht vorbehaltlos teilt. "Wenn Sie mal die Presse von vor fünf Jahren durchlesen, dann wissen Sie, dass ich immer eine gewisse Skepsis gegen das Prinzip Spitzenkandidat geäußert habe", sagte Merkel zur "Süddeutschen Zeitung". Sie sei aber ein "gutes Mitglied" der konservativen europäischen Volkspartei EVP, die das Prinzip 2014 in ihre Statuten aufgenommen habe. "Es gilt: Die EVP hat einen Spitzenkandidaten, der Manfred Weber heißt. Und ich werde mich dafür einsetzen, dass er Kommissionspräsident wird, falls wir stärkste politische Kraft bei den Wahlen werden", fügte sie hinzu.

Auf dem EU-Gipfel in Sibiu hatten sich vergangene Woche etliche EU-Regierungschefs wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dagegen ausgesprochen, dass EU-Kommissionspräsident nur werden kann, wer zuvor Spitzenkandidat einer der europäischen Parteienfamilien war. Das Europäische Parlament, das den Kommissionspräsidenten nach der Europawahl auf Vorschlag des EU-Rates der Staats- und Regierungschefs wählt, hatte dieses Prinzip 2014 erstmals eingeführt.

Merkel wich der Frage aus, ob sie statt einem Kommissionschef Weber lieber einen EZB-Präsidenten Jens Weidmann sehe. Weidmann ist aktuell Bundesbank-Chef. Diese Frage diskutiere sie nicht. "Jetzt setze ich mich für ihn (Weber) als Kommissionspräsidenten ein. Das schließt nicht aus, dass Deutschland andere herausragende Persönlichkeiten für andere Ämter hat", sagte sie. Die EU-Regierungen müssen nach der Europawahl ein Personalpaket beschließen, das neben dem EU-Kommissionspräsidenten auch den EU-Ratspräsidenten, die Außenbeauftragte und den EZB-Präsidenten einschließt.

Die Kanzlerin thematisierte auch inhaltliche Differenzen zu Weber. Es gebe bei der Beurteilung des deutsch-russischen Pipeline-Projekts Nord Stream "eigene Positionen". Weber komme "aus gesamteuropäischer Perspektive" zu einer anderen Lösung, ihre Position sei mit den deutschen Interessen und mit Europa "kompatibel". Während Weber für eine Beendigung des Pipeline-Projekts plädiert, hebt Merkel auf die Änderung der Gasrichtlinie in der EU ab und spricht von einem "erstaunlich einvernehmlichen Weg". Nord Stream 2 soll Gas von Russland nach Deutschland transportieren und ist besonders in Osteuropa umstritten.

Anders als Weber plädierte Merkel auch nicht für den sofortigen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Zwar machten die jüngsten Ereignisse nach den Kommunalwahlen „eine Mitgliedschaft der Türkei“ nicht wahrscheinlicher. Andererseits verwies sie mit Blick auf Syrien und den islamistischen Terror auf „gemeinsame Interessen“.

Merkel: Verhältnis zu Macron unbelastet

Neben Merkel dürfte Frankreichs Staatspräsident Macron nach der Europawahl am 26. Mai eine Schlüsselrolle bei der Verteilung der EU-Spitzenposten spielen. Obwohl Merkel in der „Süddeutschen Zeitung“ Meinungsverschiedenheiten mit Macron einräumte, sieht sie ihr Verhältnis unbelastet. „Gewiss, wir ringen miteinander. Es gibt Mentalitätsunterschiede zwischen uns sowie Unterschiede im Rollenverständnis.“ Das sei schon mit früheren Präsidenten so gewesen.

Trotzdem stimmten Deutschland und Frankreich „in den großen Linien natürlich“ überein und fänden stets Kompromisse. „So leisten wir viel für Europa, auch heute.“ Auf die Frage, ob sich ihr Verhältnis zu Macron in den vergangenen Monaten verschlechtert habe, antwortete Merkel: „Nein. Überhaupt nicht.“

Die Kanzlerin wies auch den Vorwurf zurück, sie setze im Vergleich zu Macron weniger europapolitische Impulse, er gelte als Reformer, sie als Bremserin. „Wir finden immer eine Mitte“, sagte sie. Als Beispiel nannte Merkel „enorme Fortschritte“ in der Verteidigungspolitik. Man habe beschlossen, zusammen ein Kampfflugzeug und einen Panzer zu entwickeln. „Es ist doch ein großes gegenseitiges Kompliment und ein Zeichen des Vertrauens, wenn man sich in der Verteidigungspolitik stärker aufeinander verlässt.“

Macron sei noch nicht so lange aktiv im politischen Geschehen wie sie, sagte Merkel - er bringe noch „gewissermaßen auch ein wenig die Perspektive von außen mit. Es ist gut, wenn wir unser Europa aus verschiedenen Blickwinkeln sehen.“ Zugleich warnte sie, wenn man „Europa nicht mehr zukunftsorientiert begründen könnte, wäre auch das Friedenswerk schneller in Gefahr, als man denkt“.

Die Kanzlerin verwies auch auf Unterschiede in den Ämtern und politischen Kulturen. „Ich bin die Bundeskanzlerin einer Koalitionsregierung und dem Parlament viel stärker verpflichtet als der französische Präsident, der die Nationalversammlung überhaupt nicht betreten darf“, sagte Merkel. „Aber in den Kernfragen - wohin entwickeln sich Europa, die Wirtschaft, welche Verantwortung tragen wir für das Klima und für Afrika - sind wir auf einer sehr ähnlichen Wellenlänge.“ Dies gelte auch in der Frage, „wo wir gegebenenfalls unabhängig von den Vereinigten Staaten agieren müssen, auch wenn ich mir solche Situationen eigentlich nicht wünsche“. (dpa, Reuters, AFP)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false