
© Davids
STÜNDLICH FÜHRUNGEN SERIE WENDEKalender: 125 Transparente „Als ob die Zeit stehengeblieben wäre“ 9. Mai 1989
Die Wendeausstellung am Alexanderplatz kommt beim Publikum gut an. Unter freiem Himmel fühlt es sich 20 Jahre zurückversetzt In der Abhörzentrale vom Teufelsberg wird ein Ost-Agent enttarnt
Stand:
Insgesamt werden in der Open-Air-Ausstellung auf dem Alexanderplatz
in Berlin bis zum 14. November rund 700 Fotos und Textdokumente aus der Zeit des Mauerfalls gezeigt.
Zu sehen sind außerdem 125 Transparente mit verschiedenen Slogan aus der Bürgerbewegung von 1989.
Gestaltet wurde die Ausstellung von der Robert-Havemann-Gesellschaft mit finanzieller Unterstützung der Bundesregierung.
Der Besuch ist kostenlos und die Schau ist Tag und Nacht geöffnet. Heute und am morgigen Sonntag finden stündlich Führungen statt. Abends ab 21 Uhr wird jeweils ein Kinofilm gezeigt.
Zwischen 13 und 21 Uhr ist an beiden Tagen ein Lesemarathon mit Schriftstellern, Historikern und Journalisten geplant. mat
Berlin - Plötzlich sind sie wieder da, diese unruhigen Zeiten mit ihren Gerüchten und sensationellen Nachrichten, diese verschlungenen Wege zu den neuen Ufern – wer seine innere Uhr zwanzig Jahre zurückdrehen möchte, der gehe zum Alexanderplatz. Rund um die Weltzeituhr findet der Ausbruch der Krise des sozialistischen Lagers, der Umbruch in der DDR und der Aufbruch in eine neue Welt noch einmal statt. Unzählige Fotos, Dokumente und Filme erzählen, wie vor 20 Jahren der Mauerbeton erweicht wurde. Erst ganz sacht, mit ein paar Mutigen in Hinterzimmern und an Vervielfältigungsapparaten, dann immer stärker, unter den Dächern der Kirchen, in Konzertsälen, und schließlich auf Straßen und Plätzen, übermächtig und unüberhörbar.
„Wir sind das Volk!“ dröhnt es aus den Lautsprechern, „Stasi raus!“ im Staccato und immer wieder „Frei-heit! Frei-heit!“. Die Stimme des Volkes übertönt den Lärm des Verkehrs, sie wirkt wie eine lautstarke Einladung, der das Publikum, neugierig geworden, in Scharen in diese großartige Freilichtausstellung der Robert-Havemann-Gesellschaft folgt. „Das alles haben wir erlebt, und es ist noch gar nicht lange her“, sagt ein Mann in der staunenden Menge, „als ob die Zeit stehengeblieben wäre.“
Den Anfang markieren die Aufstände gegen die Diktatur in der DDR (1953), in Ungarn drei Jahre später, den „Prager Frühling“ 1968 und die Geburt von Solidarnosc in Polen. Schriftsteller Vaclav Havel muss ins Gefängnis und schlägt sich als Hilfsarbeiter durch: ein Foto zeigt den späteren Präsidenten mit einem Sack Zement auf der Schulter 1975 in Trutnov.
Später, in den achtziger Jahren, fängt die Revolution wieder klein an: In der Friedens- und Umweltbewegung versucht eine Minderheit, die schweigende Mehrheit zum Handeln zu bewegen, das ist ebenso mutig wie mühsam: wie da am 24. September 1983 auf dem Kirchentag in Wittenberg Stefan Nau ein Schwert in eine Pflugschar umschmiedet getreu dem Bibelwort, das als kreisrunder Aufnäher fortan wie ein Bekenntnis getragen und von der Staatsmacht verfolgt wird. So ist „Schwerter zu Pflugscharen“ ein friedliches Protestsymbol, auch Petra Kelly trägt es auf ihrem T-Shirt, als sie und eine grüne Delegation mit Otto Schily 1983 Erich Honecker besucht.
Dann kommt die Subkultur ins Spiel, Kirchenkonzerte, Ausbürgerungen, schließlich das große Berliner Rockkonzert mit Bruce Springsteen 1988: Der Westen lieferte so lange Maßstäbe und Vorbilder, wie man die eigenen Leute daran hinderte, ihre eigene Kreativität zu entfalten. Das Opponieren ist ein ungleicher Kampf David gegen Goliath: Da hängt auf dem Alex ein Farbfoto aus dem Stasi-Archiv, das Männer der Umwelt-Bibliothek in der Zionskirche „auf frischer Tat ertappt“ zeigt: Die Stasi kam nachts, aber sofort alarmieren die Freunde der Oppositionellen westliche Medien, die vollzählig versammelt sind, wenn die Ost-Feuerwehr ein Protesttransparent vom Zionskirchturm holt.
Dies alles, am heftigsten der offene Protest gegen die Fälschung der Wahlergebnisse vom 7. Mai 1989 und eine nicht mehr zu zähmende Ausreisewelle, führt geradewegs in die friedliche Revolution. Die einen rufen: Wir wollen raus! Andere antworten: Wir bleiben hier! Alles kulminiert am 7. Oktober. Die Oberen feiern, das Volk protestiert. Zwei Tage später steht alles in Leipzig auf Messers Schneide – eine Video-Kamera ist ausgestellt, mit der zwei mutige Berliner von den Dächern der Messestadt die Demonstration filmten und dafür sorgten, dass die Bilder um die Welt gingen. Das System bröckelt, die Angst spielt nicht mehr mit.
Am 4. November klatschen 500000 auf dem Alex Beifall, als Jens Reich vom Neuen Forum ins Mikrofon ruft: „Wir haben die Sprache wiedergefunden und die Welt kennt seitdem dieses verschlafene Land nicht wieder.“
JAHRE
MAUERFALL
In den USA ist ein Ost-Agent verurteilt worden, der in der US-Abhörzentrale auf dem Teufelsberg gearbeitet hat. Der 30jährige Adjutant James W. Hall muss für 40 Jahre ins Gefängnis. Er hatte Geheimdokumente über die Nato-Konfliktstrategien an einen Stasi-Mann verkauft und ein US-Computerprogramm manipuliert. Dafür kassierte er 300 000 US-Dollar aus Moskau und Ost-Berlin. Nach Angaben der „New York Times“ ist Hall von einem CIA-Agenten enttarnt worden, der als SED-Funktionär eingeschleust worden war.
Der Ost-Berliner Freundeskreis „Wehrdienst-Totalverweigerer“ hat an der Ost-Berliner Samariterkirche (dort ist Rainer Eppelmann Pfarrer) eine Plastik zur Erinnerung an die Deserteure im Zweiten Weltkrieg aufgestellt. Gezeigt wird „ein aufgetrennter T-Träger, der die Spannung zwischen der Masse und dem sich lösenden Deserteur veranschaulicht“. Totalverweigerer wurden in der DDR mit Haftstrafen belegt. Eppelmann musste 1966 acht Monate abbüßen, wegen „Befehlsverweigerung“. Die einzige legale Form, den Dienst an der Waffe zu verweigern, war der Einsatz als „Bausoldat“. loy
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