DDR-Opfer: Ansturm auf die Beratungsstelle für DDR-Heimkinder
Mehr als 22 Jahre nach der Wende gibt es jetzt auch in Brandenburg eine Anlaufstelle für Betroffene.
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Potsdam - 350 frühere DDR-Heimkinder haben sich schon gemeldet bei Ulrike Poppe und ihren Mitarbeitern. Ab Montag ist das Potsdamer Büro der Landesbeauftragten für die Aufklärung der Folgen der Diktatur in Brandenburg offiziell Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder. „Ich rechne mit einem ziemlichen Ansturm“, sagt Poppe. Sie soll Ex-Heimkindern bei der Suche nach Akten sowie möglichen Zahlungen aus dem Entschädigungsfonds für Heimerziehung helfen.
Allein in Brandenburg gab es in den Jahren von 1949 bis 1990 insgesamt 75 000 Heimkinder. Davon waren 20 000 Kinder und Jugendliche in sogenannten Spezialheimen für schwer Erziehbare, dazu zählen auch Jugendwerkhöfe und Durchgangsheime, die eigentlich nach der Einweisung nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu einem anderen Heim sein sollten, wo aber selbst Kleinkinder oft für mehrere Monate eingesperrt waren. Zudem waren aus der gesamten DDR 3500 angeblich psychisch kranke Kinder und Jugendliche in Sonderheimen rund um Berlin eingesperrt, die es in dieser Form nur auf dem Gebiet des heutigen Landes Brandenburg gab. Diese unterstanden dem „Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie“. Allein die Wortwahl ist verräterisch. Poppe-Mitarbeiterin Petra Morawe berichtet nach Sichtung verschiedener Akten davon, dass viele Kinder nach Aufenthalten in anderen Heimen dort mit der Diagnose Hirnschaden eingewiesen und wahllos mit Psychopharmaka behandelt worden sind.
Erstmals seit der Wende soll ihnen nun geholfen werden. Und für die meisten ist es überhaupt das erste Mal, dass sie ihre Geschichte erzählen können. „Viele sind erst jetzt, nach Jahrzehnten, in der Lage, über ihr Schicksal zu sprechen“, sagt Brandenburgs Bildungsministerin Martina Münch (SPD). Etliche leiden Poppe zufolge noch heute unter den Folgen der Heimunterbringung: Depressionen, Suchtkrankheiten, Angstzustände, Probleme im Umgang mit anderen Menschen, verwehrte Schul- und Berufsbildung, verlorene Rentenansprüche, soziale Ausgrenzung, die Liste ist lang.
Was sie bei den Gesprächen mit Poppes Mitarbeitern erzählen, wirft nur ein Schlaglicht auf die Zustände in den DDR-Heimen, vieles ist noch unerforscht. Die persönlichen Berichte sind erschütternd. Auch das, was jene 13 früheren Insassen des Durchgangsheims in Bad Freienwalde über seelische und körperliche Gewalt, schlicht über Menschenrechtsverletzungen erzählen. Dort waren sie über Monate in einem früheren preußischen Gerichtsgefängnis gefangen, das für die Kinder und Jugendlichen nicht einmal umgebaut wurde. Sie waren in Gefängniszellen hinter Gittern untergebracht. Von normalem Schulunterricht konnte keine Rede sein, das Angebot war minimal. Stattdessen mussten sie regelrecht Zwangsarbeit verrichten, etwa für ein nahe gelegenes Werk Lampen montieren. Und obwohl in der DDR Gewalt gegen die Kinder und Jugendlichen ausdrücklich verboten war, wurden sie geschlagen, getreten, sexuell drangsaliert. Bettnässer wurden von den Heimerziehern vor der versammelten Gruppe mit den nassen Laken geschlagen. 12-Jährige kamen für drei Tage in Isolationshaft in eine Arrestzelle, weil sie Zigaretten weitergereicht haben. Bei Erwachsenen in Isolationshaft setzen die ersten Störungen nach 48 Stunden ein, berichtet Poppe. „Man muss sich nur vorstellen, was eine derartige Behandlung für 14-Jährige mit sich bringt.“
In der neuen Anlaufstelle aber geht es nicht nur darum, dafür Entschädigungsgelder zu vermitteln. „Dieses Leid kann man mit Geld gar nicht wieder gut machen“, erklärt Bildungsministerin Münch. Poppe sagt, es gehe darum, diesen Menschen zuzuhören, ihnen zu helfen, die eigene Biografie aufzuarbeiten, ihnen und dem, was sie erlebt haben, zunächst einfach zu glauben, für sie in den Archiven nach Spuren ihrer Kindheit zu suchen. Poppe, die selbst einmal Anfang der 1970er Jahre in Berlin die Zustände in einem Durchgangsheim erlebt hat, sagt: „Ein normales Leben ist vielen ehemaligen Heimkindern bis heute verwehrt.“
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