Brandenburg: Bei Gefährdung muss der Staat eingreifen können
Familienministerin Dagmar Ziegler über Pflichtuntersuchungen bei Kindern und Maßnahmen gegen Vernachlässigung
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Nach spektakulären Fällen von Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern in Berlin und Hamburg und dem Fall des toten, in der elterlichen Gefriertruhe gefundenen Dennis, dessen Eltern derzeit in Cottbus vor Gericht stehen, ist bundesweit eine Debatte um die Früherkennung von Missständen in Familien und Fehlentwicklungen bei Vorschulkindern in Gang gekommen. Das Deutsche Kinderhilfswerk hat eine gesetzliche Pflicht zu regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen bei Vorschulkindern gefordert. Das Saarland hat eine Bundesratsinitiative angekündigt, wonach es bundesweit Pflicht für Eltern werden soll, ihre Kinder bis zum zehnten Lebensjahr regelmäßig bei Vorsorgeuntersuchungen einem Kinderarzt vorzustellen. Die PNN befragten dazu Brandenburgs Sozial- und Gesundheitsministerin Dagmar Ziegler (SPD).
Frau Ziegler, wie stehen Sie zu der Initiative aus dem Saarland, wonach die Pflicht für Vorsorgeuntersuchungen für Kinder bis zehn Jahre eingeführt werden soll?
Ich finde die Initiative richtig. Mir scheint derzeit das Recht der Eltern größere Bedeutung beigemessen zu werden, als dem Recht des Kindes! Hier ist ein Umdenken geboten! Bei aller rechtlichen Diskussion: Entscheidend ist das Kriterium „Gefährdung des Kindeswohls“. Wenn das Kinderwohl gefährdet ist, kann die Entscheidung nicht allein bei den Eltern liegen, die oftmals – das haben die aktuellen Fälle gezeigt – völlig überfordert sind. Hier muss der Staat eingreifen können – im Interesse des Kindes. Dafür müssen notfalls auch Gesetze geändert werden.
Eine weitere rechtliche Hürde ist der Datenschutz.
Ja, genau. Auch hier muss das Wohl des Kindes dem Schutz der Daten vorgehen. Was die Grenze von Datenschutz und Kindesschutz angeht, bin ich mit der Datenschutzbeauftragten des Landes Brandenburg, Frau Dagmar Hartge, und mit meiner Kollegin Frau Ministerin Beate Blechinger im Gespräch.
In Brandenburg nehmen nach Angaben ihres Ministeriums immer weniger Kinder an den in den Kindergärten angebotenen Vorsorgeuntersuchungen teil – wie wollen Sie alle Eltern dazu bringen, ihre Kinder im Vorschulalter regelmäßig einem Arzt vorzustellen, der Hinweise auf Vernachlässigung, Misshandlungen und Fehlentwicklungen frühzeitig erkennt?
Es stimmt, die Kindergartenkinder kommen nicht in ausreichendem Maße zu den Vorsorgeuntersuchungen – auch, wenn das von Landkreis zu Landkreis unterschiedlich ist. Und, um das auch einmal zu sagen: Die meisten Eltern handeln vernünftig und stellen ihre Kinder regelmäßig beim Kinderarzt vor. Aber aus Untersuchungen des Landesgesundheitsamtes wissen wir, dass häufig gerade jene Familien mit ihren Kindern nicht zum Kinderarzt gehen, die in schlechten sozialen Verhältnissen leben. Ich bezweifle, dass Sanktionen gegen diese Eltern einen messbaren, nachhaltigen Erfolg zeigen werden. Um alle Eltern tatsächlich zu gewinnen, geht es nicht anders als über Motivationsanreize. So überlegen wir derzeit, ob wir in Brandenburg bestimmte Leistungen des Landes wie etwa die Ausstellung eines Familienpasses, mit dem es besondere Leistungen oder besondere Angebote gibt, mit dem Nachweis der Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen verknüpfen können.
Die Kinder von Arbeitslosen, die nach derzeitiger Gesetzeslage nicht einmal einen Anspruch auf einen Kindergarten- oder Krippenplatz haben, werden durch die derzeitigen Reihenuntersuchungen in den Kindergärten nicht einmal erreicht.
Ja. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Die SPD-Fraktion und wir als Landesregierung prüfen derzeit, ob wir diesen Eltern nicht auch den Anspruch auf einen Kitaplatz einräumen können. Die Kindergärten sind ja vorhanden und die Erzieher auch. Eigentlich müsste das in Zukunft möglich sein. Aber das löst das verfassungsrechtliche Problem für die Kinder, die nicht in die Kitas gehen, auch nicht. Kinder sollten auch gegen den Willen der Eltern untersucht werden können.
Klingt stark nach Finnland, wo Sie sich vor wenigen Monaten das Familienbetreuungssystem angeschaut haben und wo 98 Prozent der Familien die in den Gesundheitszentren angebotenen Untersuchungen und Beratungen freiwillig nutzen.
Die skandinavischen Länder haben mit diesem Ansatz viel Erfolg. In Finnland beispielsweise erhalten die Eltern, die sich an dem so genannten Neuvola-Programm beteiligen, neben umfassenden Hilfen auch materielle Zuwendungen.
Der Berufsverband der deutschen Kinder- und Jugendärzte verweist darauf, dass in Deutschland mindestens jedes 14. Kind in eine „Risikofamilie“ geboren wird, und fordert ein engmaschiges Netz von Hilfe von Experten und Vorsorgeuntersuchungen; meint allerdings, dass die Vorsorgeuntersuchungen Pflicht sein müssten und etwa an die Auszahlung von Kindergeld zu knüpfen seien. Auch in Finnland erhalten die Eltern nur das volle Elterngeld, wenn sie die Kinder regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung bringen und an Beratungsgesprächen teilnehmen.
Das sind wichtige Fragen, die im Zusammenhang mit der Bundesratsinitiative des Saarlandes auf Bundesebene geklärt werden müssen. Auf Landesebene startet Anfang des nächsten Jahres in der Region Senftenberg/Lauchhammer ein Modellprojekt, in dem das Klinikum Niederlausitz, Kommunen und der Landkreis ein freiwilliges System der Schwangeren-, Eltern- und Familienbetreuung und von regelmäßigen Untersuchungen der Kinder von der Geburt bis zur Einschulung erproben wollen. Das Angebot richtet sich bewusst nicht allein an Problemgruppen sondern an alle Kinder und Eltern. Es werden dort alle Berufsgruppen aus dem medizinischen und therapeutischen Bereich und Behörden Unterstützung anbieten und alle Angebote lokal koordinieren und abstimmen. So sollen mögliche Probleme schon frühzeitig erkannt und adäquate Hilfe von einer Anlaufstelle aus vermittelt werden können. Das Projekt am Klinikum Niederlausitz, mit dem so genannten Netzwerk Gesunde Kinder, ist ein Pilotprojekt, das nach zwei Jahren evaluiert werden soll.
Könnte daraus ein landesweites Projekt werden?
Ja - in Lauchhammer sollen zunächst Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie solche lokalen Netzwerke auch an anderen Standorten in Brandenburg möglichst flächendeckend strukturiert und finanziert werden können. Es gibt auf jeden Fall in allen Landesteilen schon zahlreiche Initiativen und Einrichtungen, die in eine ähnliche Richtung arbeiten oder sich für das Niederlausitz-Projekt interessieren. Mein Ministerium ist derzeit dabei, die unterschiedlichen Projekte und Ansätze, die es im Land gibt und die teils leider nebeneinander her arbeiten ohne voneinander zu wissen, zu erfassen und gezielt zusammenzuführen.
Welche grundsätzlichen Schritte sind in Brandenburg bei der Früherkennung von Fehlentwicklungen und Missständen bei Vorschulkindern aus ihrer Sicht nötig?
Die Landesregierung hat ja mit ihrem Programm „Familien und Kinder haben Vorrang“, das derzeit unter den Ministerien abgestimmt wird, wichtige Leitziele formuliert und mit Maßnahmen unterstützt. Schwerpunkte sind die Früherkennung von Entwicklungsstörungen und Erkrankungen bei Kindern sowie die Prävention von Vernachlässigung und körperlicher Misshandlung. Fest steht unter anderem: Die Reihenuntersuchungen der Gesundheitsämter in den Tagespflegestellen und Kindertagesstätten werden intensiviert, lokale Netzwerke zur Förderung der gesundheitlichen und sozialen Entwicklung von Babys und Vorschulkindern werden aufgebaut oder unterstützt und Mitarbeiter in den Kindertagesstätten, den medizinischen Einrichtungen und in den familienbetreuenden Fachdiensten werden besonders qualifiziert.
Bisher gelten die Jugendämter als Anlaufstellen und neben den Schulen als „Früherkennungsstellen“ – doch bei den in jüngster Zeit bekannt gewordenen Fällen, haben sie entweder nicht reagiert, waren nicht informiert oder ihnen waren die Hände gebunden. Und obwohl die Ämter durchaus bei Verdachtsfällen die Polizei alarmieren können, geschieht dies meist nicht. Müssen die Mitarbeiter der Ämter mehr sensibilisiert werden oder die Aufgaben anders verteilt und Kompetenzen neu geordnet werden?
Ein Problem ist sicherlich, dass viele Familien den Jugendämtern und Schulen skeptisch begegnen und Angebote und Hilfen nicht rechtzeitig annehmen. Oft sitzen die Problemeltern bei Besuch vom Jugendamt ja schon mit dem Anwalt auf der Couch, weil sie glauben, ihnen werde das Kind weggenommen. Sie trauen sich oft auch nicht, Hilfen anzunehmen oder sich mit Problemen an die Ämter zu wenden. Für diese Familien müssen wir ein Angebot schaffen, bei dem sie nicht so eine hohe Hemmschwelle überwinden müssen. Und natürlich müssen auch die Mitarbeiter in den Verwaltungen qualifiziert und vor allem sensibilisiert werden. Ich habe in den Landkreisen auch angeregt, die Gesundheits- und die Jugendämter enger zu vernetzen, am besten zusammen zu legen. Der Landkreis Potsdam-Mittelmark etwa will dies tun und da muss dann aber auch ein Informationsaustausch unter den Mitarbeitern stattfinden.
Jugend-, Schul- und Gesundheitsämter argumentieren, beim Informationsaustausch stehe ihnen der Datenschutz im Wege.
In den meisten Fällen stimmt dieses Argument nicht – gerade wenn es um das Wohl und die Sicherheit des Kindes geht. Das Modellprojekt in Lauchhammer wird deshalb auch von der Datenschutzbeauftragten des Landes mit begleitet, um zu sehen, an welchen Stellen es tatsächlich Behinderungen durch datenschutzrechtliche Bestimmungen gibt und wie das geändert werden kann. Fest steht aber: Das Kindeswohl muss Vorrang haben.
Das Gespräch führte Peter Tiede
- Brandenburg
- Finnland
- Hamburg
- Jugend
- Karin Prien
- Kunst in Berlin
- Nina Warken
- Schule und Kita in Potsdam
- SPD
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