
© M. Wolff
Brandenburg: Berliner Lehrer schicken Brandbrief gegen „Vera“ Die bundesweiten Vergleichsarbeiten in der dritten Klasse seien diskriminierend und zu schwierig, meinen 1100 Berliner Pädagogen aus Problemkiezen. Diskutiert wird ein Boykott der Tests im Ap
Berlin - Berliner Lehrer haben wegen der schwierigen Situation an ihren Schulen erneut einen Brandbrief verfasst – diesmal unterzeichnen 1100 Pädagogen von mehr als 50 Grundschulen. Das Protestschreiben der Initiative „Grundschulen im sozialen Brennpunkt“ an Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) richtet sich gegen die Vergleichsarbeiten in den dritten Klassen (Vera).
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Berlin - Berliner Lehrer haben wegen der schwierigen Situation an ihren Schulen erneut einen Brandbrief verfasst – diesmal unterzeichnen 1100 Pädagogen von mehr als 50 Grundschulen. Das Protestschreiben der Initiative „Grundschulen im sozialen Brennpunkt“ an Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) richtet sich gegen die Vergleichsarbeiten in den dritten Klassen (Vera). Es sei eine „Form der Diskriminierung“, wenn Kinder aus sozialen Brennpunkten Aufgaben lösen müssten, die für Schüler „normal geförderter Mittelstandsfamilien“ konzipiert seien. In den bundesweiten Vergleichstests wird seit 2007 Rechtschreibung, Mathematik und Lesen geprüft.
In dem Brief heißt es nun, die Berliner Schüler seien oft außerstande, Fragen der Deutscharbeiten zu durchdringen, und auch die meisten Mathematikaufgaben seien „nicht lösbar“, weil die Kinder die dazugehörigen Texte nicht verstünden. Die nächsten Arbeiten für die rund 20 000 Drittklässler in Berlin sind für Ende April bis Anfang Mai geplant.
Dazu wird es für einige Grundschulen vielleicht nicht kommen. Denn die Kritiker erwägen, ob sie die Arbeiten überhaupt schreiben lassen oder ob sie sich gegen ihren Dienstherren stellen. „Wir diskutieren, ob ein Boykott Sinn macht“, kündigte Jürgen Schulte, der Sprecher der Lehrer-Initiative, am Montag an.
Viele der beteiligten Schulen liegen in sogenannten Problemkiezen, von den Schülern stammen oft mehr als 70 Prozent aus Einwandererfamilien. Nachdem erstmals 2006 das Kollegium der Rütli-Schule im sozial schwachen Norden des Berliner Bezirks Neukölln in einem Schreiben an den Senat wegen der katastrophalen Zuständen in der Einrichtung die Abschaffung der Hauptschulen gefordert hatte, richteten sich auch Lehrer anderer Schulen bereits mit Brandbriefen an die Politik.
Im aktuellen Schreiben fordern die Unterzeichner kleinere Klassen, zusätzliche Deutsch-Förderstunden, mehr Sozialarbeiter und weitere Pädagogen mit Migrationshintergrund. Solange die personelle Ausstattung an Brennpunktschulen nicht besser werde, ergäben Vergleichsarbeiten, in denen ihre Schüler schlecht abschnitten, keinen Sinn.
„Es ist für unsere Kinder intellektuell nicht zu schaffen“, sagte gestern zum Beispiel die Leiterin der Neuköllner Sonnen-Grundschule, Renate Lauzemis, eine der Unterzeichner des Briefes. Sie hält es für nicht machbar, dass die Grundschulen „das aufholen, was die Familien in fünf Jahren versäumt haben“. So seien die Drittklässler nicht einmal imstande, visuell acht Klötze zu erfassen, die vor ihnen lägen. Stattdessen müssten sie sie einzeln nachzählen. Lauzemis sieht darin einen Hinweis darauf, dass den Kindern weitgehend die Frühförderung gefehlt habe.
Allerdings gibt es auch Gegenstimmen – etwa aus der angesehenen Erika-Mann-Grundschule im Wedding. Rektorin Karin Babbe sieht die Schulen in der Pflicht, die fehlende Frühförderung zu kompensieren. Die Vergleichsarbeiten schätze sie als „gute Rückmeldung“. So erhielten die Grundschulen die Möglichkeit, die Leistungen schulintern zu vergleichen oder auch die Leistungen unter Grundschulen in vergleichbaren sozialen Brennpunkten, meint Babbe. So werde schnell deutlich, dass es auch in Brennpunkten Schulen gebe, die zu guten Ergebnissen kämen. Allerdings sei es wichtig, dass nicht jedes Jahr andere Aufgabentypen gewählt würden. Andernfalls könne man die Ergebnisse nicht vergleichen.
Die Vergleichsarbeiten sind bereits seit längerem umstritten. „Es gibt bei Lehren und Experten seit Jahren erheblichen Unwillen gegen diese Tests“, sagte Horst Bartnitzky, Bundesvorsitzender des Grundschulverbandes, dieser Zeitung. Die Tests ergäben für gute Lehrer „wenig Erhellendes“, meist wüssten die Kollegen vor Ort ohnehin schon, wie ihre Schüler abschneiden. „Es wird suggeriert, man könne durch solche Einheitsarbeiten alle Schüler in allen Klassen und Bundesländern korrekt vergleichen“, sagte Bartnitzky. Dabei blende der Test erschwerte Lernbedingungen an den verschiedenen Schulen völlig aus.Dass Einwanderer- und Arbeiterkinder schlechter abschnitten als Schüler aus der Mittelschicht sei nicht nur Folge der Testkonzeption, sondern auch der hierzulande „enormen sozialen Unterschiede und Startbedingungen“, sagte Bartnitzky. Auch unter Lehrern aus anderen Bundesländern gibt es Kritik an Vera. „Seit der Einführung sind viele Kollegen einfach wütend“, sagte ein Sprecher der Bildungsgewerkschaft GEW in Bremen am Montag.
Aus der Berliner Bildungsverwaltung hieß es, dass für die Kontinuität der Tests gesorgt werde. Zu der Frage, ob Lehrer wegen eines Boykotts dienstrechtlich belangt werden, wollte sich der Verwaltungssprecher nicht äußern. Hannes Heine/Susanne Vieth-Entus
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