Brandenburg: Eine Stadt sucht ihr Gesicht
Die Prignitz ist Brandenburger Randregion und gilt neben Uckermark und Lausitz als Problemzone. Doch es gibt auch hier den Aufschwung – nur nicht in Wittenberge, dem Synonym für den Absturz Ost Von Dirk Becker
Stand:
Die Prignitz ist Brandenburger Randregion und gilt neben Uckermark und Lausitz als Problemzone. Doch es gibt auch hier den Aufschwung – nur nicht in Wittenberge, dem Synonym für den Absturz Ost Von Dirk Becker Wittenberge hat ein Problem. Die Stadt in der Prignitz, am nordwestlichen Zipfel Brandenburgs, ist immer gut wenn es gilt zu zeigen, dass in manchen Städten der neuen Länder nur eines funktioniert: Der Niedergang. Wittenberge – in der DDR die Stadt der Nähmaschinen und der Zellstoffindustrie – leidet unter Abwanderung und Deindustrialisierung und gilt als Synonym für die Probleme der gesamten Prignitz. Zu unrecht. Der Prignitz geht es besser als der Stadt. Uwe Büttner, Geschäftsführer der Wirtschaftsfördergesellschaft Prignitz mbH (WFG), hätte zwei Stadtrundgänge durch Wittenberge anzubieten. Den einen nennt er „Gescheiterter Aufbau Ost“. den anderen „Es geht voran in der Prignitz“. Büttner lehnt sich in seinen Sessel zurück und lächelt. „Wittenberge ist da wie jede andere Stadt. Indem ich nur bestimmte Stadtteile zeige, bediene ich jedes gewünschte Klischee.“ Seit 1992 ist Büttner für den Aufschwung in der Prignitz verantwortlich – jedenfalls für die Fördergelder. Millionen flossen in den vergangenen Jahren in die Region. Gefragt, wohin all dieses Geld ging, holt Uwe Büttner erst tief Luft. Dann beginnt er aufzuzählen, lässt sich nicht mehr unterbrechen: Er beginnt mit Wittenberge, dann geht es zum elf Kilometer entfernten Perleberg, es folgen Karstädt, Pritzwalk, Putlitz, Meyenburg. Dann fallen ihm noch Lenzen und Bad Wilsnack ein. Prignitz Chemie, Ryll Tech, Concert GmbH, Meyenburger Möbel GmbH. Name folgt auf Name und immer wieder erwähnt Büttner, dass diese Namen zwar kaum einer kenne, die der Großen dahinter schon. Doch damit werben dürfe er nicht. Und so weiß kaum jemand, dass für McDonalds, für zahlreiche bekannte Kosmetikartikel, für Cornflakes, für Ikea und vieles mehr kleine Unternehmen in der Prignitz produzieren. Ein wenig rosig gerät Büttners Bestandsaufnahme. Na klar, es gibt Probleme in der Region. Doch müsse es jetzt vor allem darum gehen, diese zu lösen. Was bei Büttner für die Prignitz so einfach klingt, das mag vor allem den Wittenberger nicht so recht überzeugen. „Ja“, sagt Büttner, „mit Wittenberge ist das schon etwas Besonderes.“ Blickt Büttner aus seinem Bürofenster, schaut er auf einen kleinen Teich. Neben dem Verwaltungsgebäude, der Kantine, dem Laborgebäude, in dem heute neben anderen die Wirtschaftsfördergesellschaft arbeitet, gehört dieser kleine Teich zum Letzten, das noch an die Zellstoff- und Zellwollwerke erinnert. In den 30er Jahren erbaut, bot das Werk mit seinen markanten fünf riesenhaften Schornsteinen bis zur Wende knapp 3000 Menschen Arbeit. Hier wurde produziert, dass es zum Himmel stank. Chemie das Zauberwort, das nicht nur an den Maschinen und den dreckigen Gebäuden, sondern auch an der Gesundheit fraß. Stand der Wind auf der Stadt, klebte ein ranzig-widerlicher Geruch in den Straßen. Damals schimpfte der Wittenberger auf die Dreckschleuder „Zellwolle“. Heute – die Luft ist sauber – schimpft er, weil sie nicht mehr steht. Grünste Wiese da, wo vor Jahren noch Betriebsgebäude vor sich hin rotteten. Die Stille und die frische Luft wirken unwirklich auf den, der noch das Alte kennt. Morgens, kurz vor 7 Uhr, rollte ein riesiger Fahrradwurm auf das Betriebsgelände zu. Um 16 Uhr zog das Ungetüm wieder zurück in die Stadt. Am anderen Ende der Stadt schrie pünktlich die Sirene der Eisenbahner „Feierabend“ und jagte den radelnden Reichsbahner zurück nach Hause oder in eine der kleinen, aber zahlreichen Kneipen. Am Rande der Stadt wuchsen Kleingartensparten. Hier tankte der Proletarier Erholung. Weit über 30 000 lebten in der „Stadt der Nähmaschinen“. Wittenberge, das war schon was. Mittlerweile hat die Einwohnerzahl die 20000 Marke unterschritten. Die Zellstoff- und Zellwollwerke geschleift, das Nähmaschinenwerk geschlossen, die Ölmühle dicht. Nur die Deutsche Bahn AG hat sich gehalten. Fanden dort zu DDR-Zeiten knapp 3000 Arbeit, sind es heute noch über 900. Die Bahn AG ist jetzt nach der Arbeitsagentur Hauptarbeitgeber der Stadt. In seinem Büro im Wittenberger Rathaus, in dem eine alte Standuhr rumpelt, heißt der Stadtobere Klaus Petry einen willkommen. Doch Willkommen ist etwas anderes. Der Bürgermeister und SPDler, seit 12 Jahren in Amt und Würden, lehnt sich auf einem der imposanten Ratsherrenstühle zurück, fixiert sein Gegenüber, fragt lauernd: „Und was wollen Sie nun in der Prignitz?“ Die Verwaltung ist äußerst misstrauisch bei auswärtigen Journalisten. Zu oft sei das Negativimage von Wittenberge bedient worden. Da sitzt einer, der nicht wirklich antworten möchte. Klaus Petry spricht von „wirtschaftlichen Kompetenzfeldern“, lobt Wittenberge mit seinem Gymnasium, dem Oberstufen- und dem Berufsbildungszentrum. Das Kultur- und Festspielhaus mit abwechslungsreichem Programm locke jährlich 30000 Besucher, dazu die jährlichen Elblandfestspiele. Dann geht es Wittenberge also gut? Das Stadtoberhaupt reagiert nur mit einem abfälligen Brummen. Abwanderung sei in dieser Region vor allem durch das unterschiedliche Lohnniveau in Ost und West bedingt, sagt Petry. Heimatgefühl helfe nicht, wo die Lohntüte schmal bleibt. Doch bald, so prophezeit er, werden hier die Fachkräfte gebraucht. Für die Jugend werde daher alles getan. Da duldet der Bürgermeister keinen Widerspruch. Die Disko im Gewerbegebiet, zwei Jugendzentren, zahlreiche Szenekneipen, eine sanierte Schwimmhalle. „Manch andere Stadt dieser Größe wäre froh über ein solches Angebot“, sagt Petry selbstsicher. In den Verwaltungsbüros wird Optimismus versprüht. Zweckorientiert und berufsbedingt. Probleme? Es wird lieber Positives berichtet. Reflexartiges Wehren, wenn das Negativbild aufscheint. Der Einseitigkeit vom Niedergang begegnet man mit einer Einseitigkeit vom leichten Aufschwung. Gut 200 Meter vom Rathaus entfernt, trudeln ein paar Autos durch einen Kreisverkehr. Rechts liegt die Altstadt mit ihren krummen und buckligen Straßen. Neben leeren Häuser an denen der Verfall nagt, wunderbar Restauriertes. Vorbei an der mächtigen evangelischen Kirche hebt sich die Straße zum Hafen hin. Ein paar Meter noch und breit liegt das Elbetal da. Sprachlos ob dieser stillen Schönheit folgt der Blick dem gelassen dahin ziehenden Fluss. Zahlreiche Radler kreuzen klingelnd den Weg. Eine Gruppe älterer Herren, die rastend die Karte studiert, gefragt, wie es denn hier gefalle, antwortet mit einstimmiger Begeisterung. Seit Tagen auf dem internationalen Elbradweg unterwegs, soll es heute noch stromabwärts Richtung Lenzen gehen. Nach Wittenberge hinein? Dahin wollen sie nicht. Die Stadt bleibt am Rande liegen. Die Touristen kommen wegen der Natur in die Prignitz. Nicht wegen Wittenberge. Biegt man am besagten Kreisverkehr nach links, folgt man der Einkaufsmeile Bahnstraße, die zum Bahnhof führt. Ho-Chi-Minh-Straße nennt der Einheimische die Einkaufsmeile. Die Dominanz der sechs vietnamesischen Händler – der Grund für diesen Namen. Ein paar Städter nach ihrer Meinung gefragt - den eigenen Namen in der Zeitung lesen will keiner - zeichnen ein trübes Bild ihrer Heimat. „Hier is doch nischt.“ Keine Arbeit, keine Zukunft. „Versprochen ham se uns viel.“ Passiert ist scheinbar nichts. Wo Bürgermeister Petry erst nach mehrmaligen Nachfragen nur vorsichtig formulierend von Wittenbergern sprach, die nicht von der Wende „partizipiert“ hätten, findet Petra Ferch klare Worte. „Es gibt eine Generation, die der mittlerweile über 50-Jährigen, die ganz klar auf der Strecke blieb.“ Ein Grund, warum es dieser Stadt an Selbstbewusstsein fehlt. „Eine Entwicklung ist da. Doch das neue Gesicht ist erst in ganz zarten Konturen zu erkennen“, sagt die Chefredakteurin der örtlichen Tageszeitung „Der Prignitzer“. Und: „Erst mit der nächsten Generation wird die Stadt wieder ein Gesicht finden.“ Von Wittenberge, mit seinen Problemen, den stillen Straßen mit den leerstehenden Häusern, den vernagelten Fenstern ist es nur ein kurzer Weg, bis einen das satte Grün der Prignitzer Wälder schluckt. Bollwerkhaft die Alleen, die kilometerlang die Straße umschlingen. Vorbei an Dörfern, deren Häuser an die Straße gefädelt sind, führt der Weg nach Bad Wilsnack. Mit 7000 Einwohner ist der Ort vor allem wegen seiner Kristall Kur- und Gardiertherme bekannt, die jährlich Tausende besuchen. Am Ortsrand auf grüner Wiese beschäftigt die Firma Cleo Schreibgeräte GmbH 75 Mitarbeiter in unscheinbaren Flachbauten. Schon zu DDR-Zeiten wurde hier mit dem Skribent, einem Stift für technische Zeichnungen, Exklusives produziert. Nach der Wende standen die Arbeiter dann in leeren Hallen. Die Firma hat sich 1990 auf die alten Stärken konzentriert und weiter exklusive Schreibgeräte produziert. Handarbeit, eigene Ideen, Qualität und geringe Stückzahlen haben gezeigt, dass dieser Weg der richtige war. Der Laden brummt, fast jedes Jahr eine Auszeichnung, schwarze Zahlen werden geschrieben, Erfolge auf dem internationalen Markt gefeiert und der Bundespräsident war auch schon da. Eigentlich könnte sich Geschäftsführer Manfred Gau, gebürtiger Rheinländer, der vor sieben Jahren nach Bad Wilsnack kam, zufrieden zurücklehnen. Doch händeringend sucht er jemanden der Englisch spricht. „Bitte, bringen Sie mir jemanden“, fleht er. „Es genügt, wenn jemand ein Jahr im Ausland war und die Sprache beherrscht.“ Es klingt paradox: In einer Region mit einer Arbeitslosigkeit über 20 Prozent werden Arbeitskräfte gesucht. Es sind Fachkräfte, die teilweise schon jetzt fehlen. Und in ein paar Jahren kann dies zu einem weiteren großen Problem der Region werden. Für Katrin Lange ist das nichts Neues. 1997 kam sie von Potsdam nach Meyenburg am nördlichen Rande der Prignitz. Seit vergangenem September sitzt sie als Amtsdirektorin im Meyenburger Rathaus. Das Amt Meyenburg mit seinen 5200 Einwohnern hat das, wovon man in Wittenberge noch träumt: Die Autobahn 24 dicht vor der Stadt. Mit der Meyenburger Möbel GmbH, die schon vor der Wende für Ikea Möbel fertigte und es noch heute tut, und den Unternehmen im naheliegenden Gewerbegebiet Falkenhagen, gibt es hier 3000 Industriearbeitsplätze. „Abwanderung ist für uns kein Problem. Eher macht sich in Meyenburg der Geburtenknick kurz nach der Wende bemerkbar“, sagt Katrin Lange. Früh wurde erkannt, dass für die Zukunft dieser Region eine enge Zusammenarbeit von Verwaltung und Wirtschaft die größte Bedeutung hat. Zusammen mit den Bürgermeistern der nahen Städte Putlitz, Pritzwalk und Wittstock und den Unternehmen habe man sich an einen Tisch gesetzt, um Wege zu finden, wie junge Menschen in die Region geholt oder wenigstens zum Bleiben bewegt werden können. „Kooperatives Mittelzentrum“ lautet die Direktive für die Zukunft. „Wir schauen, welche Stadt welche Stärken hat. Nicht jede braucht ein Schwimmbad oder ein Gymnasium. Nach diesen Kriterien sollen auch die Fördermittel vergeben werden“ sagt Katrin Lange. Das Mittelzentrum soll so alle Bedürfnisse abdecken und genügend Anreize für ein Kommen und Bleiben bieten. Doch Katrin Lange muss schon jetzt eingestehen, dass es immer schwieriger wird. Auf der einen Seite begrüßt die Landesregierung Initiativen, mit denen Familien in die Region geholt, die Abwanderung gestoppt werden soll. Auf der anderen werden immer mehr Kindergärten und Schulen geschlossen, müssen für die Kinder weitere Wege in Kauf genommen werden. Die Fahrkosten selbstverständlich bei den Eltern. Als Brandenburgs Landesregierung im Frühjahr ankündigte, nicht mehr mit Gießkanne alles und jeden überall zu fördern und sich im wesentlichen auf den Berliner Speckgürtel und wenige Leuchttürme im Land zu konzentrieren, ging ein Aufschrei auch durch die Prignitz. Die, bei denen sich in 15 Jahren Einheit kein Investor im leeren Gewerbegebiet ansiedeln, wo BMW partout keine Autos bauen wollte, waren in der Prignitz die, die am lautesten schrien. Ein Dorfbürgermeister drohte gar mit Spaltung der Region und dem Wechsel der Gemeinde nach Mecklenburg. In Orten wie Meyenburg und Bad Wilsnack war man ruhiger geblieben. Zwar gibt es auch dort Probleme und kein echtes Wirtschaftswunder. Aber die ansässigen Branchen werden auch weiterhin gefördert. Es gibt sie, die kleinen Leuchttürme in der Prignitz. Wittenberge kann davon nur Träumen. Ernsthaft interessiert ist nur der Film. Die Filmbranche mag die maroden Gesichtszüge der Stadt. Das Packhofviertel, dicht an den ehemaligen Großbetrieben, und das Jahnviertel am Bahnhof bieten ideale Kulissen für Filme, die in den 20er und 30er Jahren spielen. Anfangs jubelte die Verwaltung, pries das fast leerstehende Packhofviertel noch mit großer Tafel als „Historische Filmkulisse“. Doch schnell wurde klar, dass die Filmemacher nur der Verfall in den Arbeitervierteln interessierte. Das ungeliebte Schattengesicht der Stadt wurde um ein Detail reicher. Und mittlerweile reagiert man sehr empfindlich, wenn ein Regisseur mal wieder in einer Zeitung begeistert erklärt, in Wittenberge gäbe es noch Stadtteile die aussehen, als wäre dort seit dem Krieg nichts geschehen. Immerhin: Sechs neue Bahnsteige hat Wittenberge jetzt. Aber nur einmal am Tag hält der InterCityExpress hier. Ansonsten donnert das Symbol des schnellen Zeitalters ungebremst an der Stadt vorbei, wirbelt nur ein wenig Staub auf. Etwas abseits das alte Bahnhofsgebäude, in dem auch der Leerstand dominiert. Dahinter, im aufgewühlten Sand, rosten Schienenhaufen. Neues entsteht hier neben Altem, doch nicht immer ist das Alte abgeschlossen und das Neue akzeptiert. Hier reibt sich die Geschichte stur an den Veränderungen. Und nicht immer ist klar, wessen Kanten geschliffen werden. Stündlich kann man mit dem Regionalexpress in Wittenberge ankommen. Stündlich kann man die Stadt wieder in Richtung Berlin verlassen. Langsam zieht der Zug über die neuen Schienen. Vorbei an leeren Werkhallen und wildem Grün, das sich hier durchgesetzt hat. Vorbei an dem ockerfarbenen, knapp 50 Meter hohen Uhrenturm der ehemaligen Nähmaschinenwerke. Seit 1929 zeigt die Uhr im Turm weithin sichtbar die aktuelle Zeit. Doch welche Stunde für Wittenberge und die Region gerade geschlagen hat, das wusste sie noch nie. In seinem kleinen Büro in der Laborstraße hatte Wirtschaftsförderer Büttner die Uhr als die „größte kontinentale Turmuhr Europas“ gepriesen. Immerhin.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: