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Brandenburg: Neues Leben in der Anonymität

Bedrohte Ausländerinnen suchen Schutz beim Berliner Verein Hatun & Can

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Berlin – Ihren richtigen Namen will die schmale Berliner Türkin auf keinen Fall preisgeben. „Zu gefährlich“, sagt die Frau, die sich Derya nennt und nach der Scheidung fern von ihrem prügelnden Ex-Mann ein eigenes Leben begonnen hat - unauffällig, vorsichtig. „Ich hab'' viel Angst gehabt, dass es mir auch so geht wie Hatun“, sagt sie leise. Der so genannte Ehrenmord an Hatun Sürücü, einer jungen Deutsch-Türkin, hatte vor zweieinhalb Jahren bundesweit Entsetzen ausgelöst.

Die 23-Jährige war in Berlin von einem ihrer Brüder erschossen worden. Das Landgericht urteilte, dass die Mutter eines kleinen Sohnes wegen ihres westlichen Lebensstils sterben musste. Der jetzt 21-jährige Todesschütze bekam eine Jugend-Haftstrafe von neun Jahren und drei Monaten. Mit der Bluttat wollte er die „Ehre der Familie“ wieder herstellen. Ungeklärt blieb, ob die Familie einen gemeinsamen Todesbeschluss fasste. Zwei mitangeklagte Brüder kamen aus Mangel an Beweisen frei. Dagegen hatte die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes in Leipzig verhandelt nun am 28. August über die mögliche Mitschuld der beiden am Tod ihrer Schwester.

Derya, die 16-jährig in der Türkei mit einem in Berlin lebenden Cousin zwangsverheiratet wurde, kümmert sich jetzt selbst um bedrohte Frauen. Lange habe sie weder Mut noch Hoffnung gehabt. „Es war die Hölle.“ Jetzt sei alles besser, sagt sie. Nachdem ihr selbst geholfen wurde, gehört Derya zum Verein Hatun & Can. Can ist der Vorname des Sohnes von Hatun Sürücü, der bei Pflegeeltern lebt.

Vereinsgründer Andreas Becker, auch dies ein geänderter Name, holt mit seiner Nothilfe-Mannschaft Frauen aus Familien und bringt sie an einen zumeist anonymen Ort, in eine neue Wohnung oder sogar ins Ausland. Mehrere Wohnungsgesellschaften unterstützten den Verein und stellten Quartiere auch ohne Lohnbescheinigung bereit, sagt Becker. Auch beim Jobcenter würden gemeinsam Hilfen beantragt. „Wenn ein Hilferuf kommt, setzen wir uns sofort in Bewegung.“ Doch bei Minderjährigen gehe das nicht. „Wir würden uns strafbar machen“, sagt Becker. Solche Hinweise leite er an Jugendämter weiter. Gerade im Sommer meldeten sich verzweifelte junge Migrantinnen, die nicht in ihrer alten Heimat Urlaub machen wollen – weil dort der Familienclan eine Zwangsverheiratung arrangiert hat. Doch manchmal müsse die Frau schnell einreisen, da komme jede Hilfe zu spät.

Seit der Vereinsgründung zum zweiten Sürücü-Todestag im Februar sei aber schon elf Frauen geholfen worden, berichtet Becker, der Hatun Sürücü kannte und mit dem Verein auch ihr Andenken hoch halten will. „Wir retten Leben.“ Zu erreichen sind die Helfer über die Website www.hatunundcan-ev.com. „Das hat sich schon rumgesprochen“, sagt Becker. Ein festes Büro habe der Verein nicht, der sich über Spenden finanziert. Vielleicht hätte auch Hatun ein Ortswechsel vor dem Zugriff der Familie bewahrt, denkt Becker öfter.

Der Vereinschef beschreibt die vertrackte Lage: Eine Frau, die den Mut aufbringe, bei der Polizei ihre bedrohliche Lage aufzuzeigen, werde meist zurückgeschickt. „Weil ja noch nichts passiert ist.“ Sie bliebe dann allein mit ihrer Angst vor Schlägen, Vergewaltigung und Demütigung. Er gebe auch Fälle, in denen die abtrünnige Frau oder Tochter per Foto im Internet gegen Geld gesucht werde. „Diese Parallelwelten müssen öffentlich gemacht werden“, findet Becker. Es sei schwer für Frauen, oft ohne Ausbildung und ungenügendes Deutsch, mit der Familie zu brechen, weiß auch Rechtsanwältin Regina Kalthegener.

Nach Angaben von Hilfsorganisationen würden bundesweit jeden Monat rund 90 Gewaltfälle im Namen der Ehre bekannt, sagt sie.

Jutta Schütz

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