Brandenburg: Stell dir vor, Berlin wird Hauptstadt...
...und niemand will hin. So war die Lage plötzlich, als sich Deutschland mit seiner Einheit abmühte. Und sich Bonn einfach weiter als Kapitale aufspielte. Rund um den Reichstag wirkte die Stadt noch steppig und war ansonsten mit sich selbst beschäftigt. Bis ein kühner Entwurf für ein Regierungsviertel entsteht
Stand:
WUNDEN UND WUNDER
Der Reichstag stand auch nach dem Abriss der Mauer, die Berlin inmitten seiner politischen Mitte getrennt hatte, nicht im Zentrum der Stadt – und erst recht nicht im Fokus der deutschen Politik. Im Bundestag in Bonn wurde auch noch lange nach dem Hauptstadt-Beschluss der Umzug der Regierung nach Berlin angezweifelt, verzögert und torpediert. An rheinischen Kaminen wünschte man sich eine schlüsselfertige neue Hauptstadt, wenn man denn schon nach Berlin gehen müsse. Die marode Bausubstanz und die archaischen Telefonverbindungen im Ostteil Berlins wurden zeitweilig sogar zu dem Eindruck hochgerechnet, die neue Hauptstadt befinde sich am Rand der Zivilisation. Auch die Mehrheit der Deutschen sprach sich in Umfragen zwischenzeitlich gegen den Umzug aus. Bis Berlin zu der unumstrittenen Hauptstadt heranwuchs, die sie heute ist – mit dem Reichstag als natürlich wirkendes Herz der Demokratie –, bis dahin sollten noch viele Debatten vergehen, und viele Jahre.
Berlin ist inzwischen auf dem besten Weg, sich in eine Großbaustelle zu verwandeln, die bald in Europa, ja weltweit – sieht man von Schanghai ab – ohne Vergleiche ist. Der Anfang allerdings ist bescheiden – es ist die Grundsteinlegung für einen schmalen Eckbau im September 1992 in der noch DDR-grauen Prachtstraße Unter den Linden, schräg gegenüber der russischen Botschaft, die zu diesem Zeitpunkt noch die sowjetische ist. Es ist der erste Neubau, der nach der Wende im Ostteil der Stadt in Angriff genommen wird – später wird hier das „Café Einstein“ einziehen, das nach dem Umzug zum prominenten Treff der Politiker werden wird. Doch als ob Ost-Berlin einen langen Schlaf ab- schütteln wollte, schießen überall Baustellen aus dem Boden. Zur gleichen Zeit wird das erste Vorhaben des sozialen Wohnungsbaus in Ost-Berlin in Angriff genommen. Bald klagt Bausenator Wolfgang Nagel, dass er nicht über genügend Personal für alle Projekte verfüge. Kurz vor Jahresende wird ein regelrechter Planungsboom registriert: Allein in Berlin Mitte sind vierzig Projekte mit einem Volumen von sieben Milliarden D-Mark in Arbeit.
Doch zugleich verändert sich in der Bundesrepublik die Stimmung in Sachen Umzug. Der Beschluss, den der Bundestag im Juni 1991 für Berlin getroffen hat, verliert an Überzeugungskraft. Berliner, die in die alte Bundesrepublik reisen, bringen besorgte Fragen zurück: Übernehmt ihr euch nicht? Muss der Umzug wirklich sein? Immer öfter gibt es deutliche Zeichen des Unwillens: Was wollen die Berliner eigentlich? Sie haben doch die Hauptstadt! Als sich im Juni 1992 der Berlin-Beschluss zum ersten Male jährt, fallen die Bilanzen ernüchternd aus. In seiner ersten Plenardebatte zum Umzug stellt sich der Bundestag zwar mit großer Mehrheit hinter die getroffenen Entscheidungen. Doch andere Themen des Vereinigungsprozesses haben dem Hauptstadtprojekt den Rang abgelaufen. Die Parlamentarier bewegt die Vereinheitlichung des im Westen und Osten unterschiedlich geregelten Paragrafen 218; das bringt den Bundestag zu einer seiner seltenen Nachtsitzungen.
In Berlin festigt sich dagegen der Verdacht, aus den in Bonn verbleibenden acht Ministerien könnte am Ende der Grundstock einer zweiten Regierungszentrale werden. „Zwei Hauptstädte wetterleuchten am gesamtdeutschen Himmel“, ist die Bilanz überschrieben, mit der Brigitte Grunert im Tagesspiegel die Entwicklungen bewertet. Die Kraftproben und Winkelzüge an den Verhandlungstischen ergeben ein resignatives Bild: Die Spitzenbeamten, die für den Senat dort am Tisch sitzen, „fühlten sich über denselben gezogen. Sie trafen auf fertige Bonner Abreden und damit auf eine Wand. Bundesregierung und Bonn-Lobby haben nach der Devise gehandelt: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Den Berlinern wurde gesagt: Ihr kriegt ja eure Hauptstadt, den Schreiern im Raum Bonn, also Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, wurde der Mund gestopft. So aber ist das Hauptstadtkonzept zur Arbeitsteilung abgedriftet, und niemand fragt wirklich nach der Funktionsfähigkeit von Parlament und Regierung, die am Ende durch einen teuren Wanderzirkus behindert werden.“
Richtet sich das Planen in Bonn und Berlin denn überhaupt auf das gleiche Ziel? Die Bonner – so hat man den Eindruck – stellen sich eine Regierung vor, die als fertig entworfenes Ensemble sozusagen in die Stadt hineingepflanzt wird, eine „Puppenstubenstadt“, wie die Berliner lästern, die ihrerseits die Hauptstadt in die existierende Stadt hinein- beziehungsweise aus ihr herauswachsen sehen. Nur keine Provisorien, lautet die Devise in der alten und unverdrossen weiter arbeitenden Regierungszentrale, weshalb sich die Überlegungen mit Vorliebe auf Neubauten und ein Regierungsviertel richten, das Bonn entspricht, nur – versteht sich – größer, komfortabler und repräsentativer.
Bonn drängt darauf, dass der Umzug stattfinden solle, wenn die Hauptstadt funktionsfähig sei, was suggeriert, sie solle sozusagen schlüsselfertig übergeben werden – „Stichtagsumzug“ heißt der Terminus –, Berlin möchte bald etwas Hauptstädtisches sehen und ist für einen schnelleren Umzug, der sich in Etappen vollzieht. Garniert ist der Disput mit west-östlichen Nadelstichen. An den rheinischen Kaminen werden die marode Bausubstanz und die archaischen Telefonverbindungen zu dem Eindruck hochgerechnet, Ost-Berlin befinde sich am Rand der Zivilisation. Dagegen lädt man dort Spott und Hohn ab über die Bonner, die wohl glauben, es sei ihnen nicht zuzumuten, in DDR-Gebäuden zu arbeiten: 43 Ministerien habe die DDR in ihren Blütezeiten gehabt, und die – so spottet der aus Ost-Berlin stammende Bürgermeister Schwierzina gern – „haben nachweislich nicht in Beduinenzelten gehaust“ .
Wie tief das gegenseitige Misstrauen geworden ist, wird Ende des Jahres 1992 spektakulär offenbar. Da werden über Nacht Bonner Pläne publik, dass die großen Komplexe in der Berliner Mitte, in denen die DDR-Regierung und die SED residierten – das Staatsratsgebäude, das SED- Zentralkomitee in der ehemaligen Reichsbank und das Haus der Ministerien an der Leipziger Straße, das frühere Luftwaffenministerium –, abgerissen werden sollen, um Platz für die Neubauten von Innenministerium und Auswärtigem Amt zu schaffen. Die Absicht läuft unter dem gut bürokratischen Titel „Freimachungskonzept für die Bundesbauten“ und erzeugt in Berlin einen Aufschrei. Einen „skandalösen und unglaublichen Vorgang“ nennt sie der Bausenator – er selbst hat die Kabinettsvorlage vorzeitig an die Öffentlichkeit gebracht –, aus dem Haus des Bundessenators schallt es: „Gedankenlosigkeit“, „Prestigedenken“ mancher Ministerien, die „übliche Bonner Hinterfotzigkeit“.
Gewiss, Bonn, verblüfft über die heftige Reaktion, rudert zurück. Doch der „Spiegel“ hat bereits das Sprengsatz-Wort „Hauptstadtlüge“ in die Debatte katapultiert. Alle, soll das heißen, spielen bei diesem Jahrhundertunternehmen falsch: die Berlin-Befürworter mit der Vorbereitung einer Hauptstadt, die es so nie geben wird, die Bonn-Lobby mit der Strategie, dort unverdrossen weiterzubauen und darauf zu warten, dass sich das Regierungsmodell mit seiner komplizierten Aufteilung von Ministerien und Ämtern als unrealisierbar herausstellt. Man „muss nur durch das Parlamentsviertel am Rhein und durch die Steppe rund um den Berliner Reichstag laufen“, so beschreibt das Magazin die Situation, „um zu begreifen, dass der Umzug Science-Fiction ist.“ Die Folgen werden ein paar Wochen später offenbar: Laut einer Umfrage der ARD ist die Mehrheit der Deutschen, 83 Prozent, Anfang 1993, eineinhalb Jahre nach dem Hauptstadtbeschluss, gegen den Umzug, nach Emnid sind 72 Prozent zumindest für eine Verschiebung des Termins.
Die Umzugsdebatte hat einen Tiefpunkt erreicht. Leslie Colitt, ein amerikanischer Korrespondent, seit vielen Jahren in Berlin, formuliert ein bitteres Resümee: Könnte es sein, dass die Stadt zwar das Gefecht um die Berlin-Entscheidung gewonnen, aber die „eigentliche Schlacht darum, in absehbarer Zeit die wahre Hauptstadt Deutschlands zu sein, verloren haben könnte“? Denn wenn die Dinge weiter so schleppend verliefen, bestehe die Gefahr, dass die Stadt „für Jahrzehnte das wirtschaftliche und politische Hinterzimmer Deutschlands“ bleibe. Aber die deutsche Umzugsdebatte ist für Ausländer ohnehin schwer zu begreifen. „If the Capital Is Going to Berlin, How Come Nobody Is Packing“ – „Wenn die Hauptstadt nach Berlin gehen will, weshalb packt niemand?“, fragt die „Herald Tribune“.
Doch an einem trüben Tag im Januar 1993 stehen der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen, Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth und Bauministerin Irmgard Schwaetzer stolz vor einer Tafel mitten in Berlin. Sie kündigt das erste Bauvorhaben des Bundes in der Hauptstadt an. Allerdings steht das kleine Empfangskomitee buchstäblich im Niemandsland. Nichts ist davon zu spüren, dass es sich an einer der vornehmsten Stellen des alten Berlin befindet – an der Ecke der alten Prachtstraße Unter den Linden und der Wilhelmstraße, am Eingang zum Pariser Platz. Die Vergangenheit des letzten Halbjahrhunderts hat den Ort noch fest im Griff: Das Brandenburger Tor ein einsamer Solitär, der Pariser Platz eine leblose, planierte Fläche, und noch hindert nichts den Blick, frei auf das graue Massiv des Reichstags zu schweifen.
Das wirklich Neue bereitet sich ein paar Kilometer entfernt vor. Im Staatsratsgebäude, in dem vor drei Jahren noch Erich Honecker residierte, warten, vor allen Blicken geschützt, 821 Entwürfe für die Bebauung des Spreebogens auf die Entscheidung. In einem Acht-Tage-Marathon und strenger Klausur arbeitet sich die Jury durch Pläne und Modelle. Am 18.Februar 1993, kurz vor Mitternacht ist es so weit: Zwei Berliner Architekten, Axel Schultes und seine Partnerin Charlotte Frank, haben den Wettbewerb für sich entschieden. Der Entwurf wird sogleich als großer Wurf bewertet. Und setzt ein markantes Zeichen: Er gibt der Stadt an jener Stelle, an der die Spree mäandernd die Grenze zwischen Westen und Osten bildete, eine neue, verbindende Grundfigur. Eine große „Spange“ – so bezeichnet sie Schultes – soll Bundestag und Kanzleramt verbinden und damit Westen und Osten zusammenfügen; bald bekommt diese Spange den Namen „Band des Bundes“.
Durchschlägt der kühne Gedanke den Knoten der Debatte über den Umzug? Bald wird klar, dass dieses Jahr 1993 ein Entscheidungsjahr für Berlin werden wird. Während hunderttausend Besucher im Staatsratsgebäude die Modelle des Wettbewerbs besichtigen, machen die Umzugsskeptiker im Bundestag mobil: Mehr als 80 CDU/CSU-Abgeordnete kündigen einen Antrag an, den Umzug für „zunächst“ fünf Jahre auszusetzen, damit er dann in einem „finanzpolitisch verantwortbaren und von der Bevölkerung mitgetragenen Zeitraum“ verwirklicht werden kann; eine Gruppe um den jungen baden-württembergischen SPD-Abgeordneten Hans Martin Bury will ihn auf 2010 verschieben. Das ist, so sieht es der Bundestagsabgeordnete Dietmar Kansy, einer der Motoren des Umzugs, „kein Rückzugsgefecht der Berlin-Gegner mehr, sondern eine Gegenoffensive“.
Am Umzug nagt auch die Krise, in die der deutsche Einheitsprozess selbst gerät. Es gehörte zur Logik der Bundestagsentscheidung, dass die Hauptstadt Berlin eine Art Brückenkopf im politisch-mentalen Neuland sein sollte.Doch inzwischen ist die Einheit selbst in die Defensive geraten. Der Aufbau Ost wird nicht – wie immer wieder beschworen – „selbsttragend“. Stattdessen greift die De-Industrialisierung um sich und schürt die Gefahr, die neuen Länder könnten – ein anderes alarmierendes Wort der Stunde – zu einem „deutschen Mezzogiorno“ werden. Die Wiedervereinigung wird zunehmend zu einer Hilfsaktion für den Osten, während die neuen Länder fast nur noch als eine prekäre Zone wahrgenommen werden, mit der die Bundesrepublik notgedrungen fertig werden muss. Und Elisabeth Noelle-Neumann, die notorische Beobachterin des Seelenzustandes der Deutschen, zieht aus ihren Umfragen die Frage: „Wird sich jetzt fremd, was zusammengehört?“
Tatsächlich ist die Bundesrepublik des Jahres 1993 nicht mehr die von 1991. An die Stelle des Anfangs, den die Berlin-Entscheidung zu setzen schien, sind Rudel von Problemen getreten. Das ermüdende Dauerpalaver zwischen Ost und West drückt aufs öffentliche Bewusstsein. Seit Monaten liegt die Bundesrepublik im Streit über einen milliardenschweren Solidarpakt, der verhindern soll, dass die neuen Länder Fässer ohne Boden bleiben. Im März beginnen in Leipzig neue Montagsdemonstrationen, diesmal gegen die Politik der Bundesregierung. Ein Streik der Kali-Bergleute im thüringischen Bischofferode zieht sich wie ein nicht zu löschender Schwelbrand über Monate hin, begleitet von heftigen Protesten gegen die Folgen der deutschen Vereinigung.
Auch der weltpolitische Horizont trübt sich ein. Der lange Machtkampf in Moskau wird erst im Herbst 1991 mit Gewalt beendet – mit angehaltenem Atem sieht die Weltöffentlichkeit die Rauchwolken, die aus dem weißen Haus des Parlaments dringen, nachdem ein gegen den Präsidenten Boris Jelzin gerichteter Putschversuch niedergeschlagen worden ist. Auf dem Balkan entzündet sich ein Krieg, der scharf und blutig in die Wirklichkeit des neu vereinten Europa einbricht. Mit Zehntausenden von bosnischen Flüchtlingen erreicht er auch Berlin. Und der Aufbruch Berlins zwischen 1989 und 1991 erscheint wie ein Märchen aus uralten Zeiten.
Nächste Folge: Eine Stadt wird auf den Kopf gestellt.
Hermann Rudolph: Berlin – Wiedergeburt einer Stadt.
Quadriga Verlag,
432 Seiten, 24,99 Euro. Das Buch erscheint am 8. Oktober.
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