
© ADN/Karlheinz Schindler, Bundesarchiv
Enquete-Gutachten: Stolpe hätte wegen Stasi-Kontakten Mandat verlieren müssen
Brandenburgs Ex-Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) und ein Dutzend weitere Landtagsabgeordneter hätten in der ersten Wahlperiode ihr Abgeordnetenmandat niederlegen müssen - wegen ihrer Stasi-Kontakte. Das stellt jetzt ein Gutachten für die Enquete-Kommission zur DDR-Aufarbeitung fest. Demnach war die Bischofskommission auffällig nachsichtig. SPD und Linke sind empört und verteidigen die "Politik der zweiten Chance".
Stand:
Das Urteil der Experten ist vernichtend, der Brandenburg Weg aus ihrer Sicht gescheitert: Bei der Stasi-Überprüfung der Abgeordneten des ersten Legislaturperiode des Landtags wurde heftig geschlampt und die vom Parlament selbst aufgestellten Prüfmaßstäbe nicht eingehalten. Überdies halten sie den ersten Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD) für einen wichtigen Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit. Und auch bei der Stasi-Überprüfung in der Landesverwaltung wurde auffällig nachsichtig mit belasteten Mitarbeitern umgegangen. Rot-Rot reagierte empfindlich und sprach von „ideologischen Attacken“ im Sinne der Opposition.
Nach dem Gutachten der Experten für die Enquete-Kommission zur DDR-Aufarbeitung in Brandenburgs Nachwendejahren hätte Stolpe wegen seiner Stasi-Kontakte in der DDR sein Landtagsmandat niederlegen müssen. Neben Stolpe hätte nach einem Bericht der „Märkischen Oderzeitung“ auch ein knappes Dutzend weiterer Abgeordneter ihr Mandat zurückgeben müssen.
Die Landtagsabgeordneten wurden in der ersten Legislaturperiode des Landtags von der so genannten Bischofskommission aus zwei Kirchenvertretern auf mögliche Tätigkeiten für die DDR-Staatssicherheit überprüft. Die Kommission empfahl zwei Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90 eine Mandatsniederlegung. Zwölf weitere Abgeordnete stufte die Kommission als Grenzfälle ein und stellte fest, dass deren Stasi-Kontakte keine Mandatsniederlegung rechtfertige – sie konnten ihr Mandat behalten. Nun untersuchten Gisela Rüdiger (die ehemalige Leiterin der Potsdamer Außenstelle der Gauck-Behörde) und Hanns-Christian Catenhusen im Auftrag der Enquetekommission die damalige Stasi-Überprüfung. Bei der Neubewertung haben sie keine neuen Erkenntnisse über Stasi-Kontakte herangezogen.
Allerdings wurden bei einer erneuten Abfrage bei der Jahn-Behörde 19 Stasi-Fälle unter den Abgeordneten der ersten Legislaturperiode festgestellt. Bei der damaligen Überprüfung waren es nur 14 Politiker. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass die Einordnung als Grenzfälle nicht den Vorgaben entsprach, die der Landtag für die Stasi-Überprüfung selbst beschlossen hatte. Die Gutachter stellen nun 20 Jahre später fest, dass die beiden Kirchenvertreter die vom Landtag beschlossenen Maßstäbe im Laufe des Überprüfungsverfahren veränderten und den Schilderungen der Betroffen zu viel Glauben schenkten. Zudem habe die Kommission die Hinweise der Stasi-Unterlagenbehörde nicht ernst genommen, dass die weitere Erschließung der Stasi-Akten zu neue Erkenntnisse und weitere Stasi-Fällen führen dürfte. Damit steht erneut die Kritik im Raum, warum es in Landtag und Behörden in den Folgejahren keinen weiteren Stasi-Check für bereits überprüfte Abgeordnete und Mitarbeiter habe.
Im Fall von Manfred Stolpe teilen Rüdiger und Catenhusen die Einschätzung der Stasi-Unterlagenbehörde, dass der ehemalige Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche ein wichtiger IM der Stasi gewesen sei. „Der innere Vorbehalt Dr. Stolpes, eigentlich im Dienste der Kirche gearbeitet zu haben, ist nach dem Landtagsüberprüfungsbeschluss und auch nach den Kriterien des Überprüfungsverfahrens unbeachtlich“, heißt es im Gutachten. Ein Untersuchungsausschuss des Landtages zu Stolpes Stasi-Kontakten entlastete 1994 den heute 75-Jährigen weitgehend. Den Vorwurf, als IM gearbeitet zu haben, hat Stolpe stets bestritten.
Völlig unerklärlich ist den Gutachtern zudem, warum der PDS-Politiker Heinz Vietze im Bericht der Kommission zur Stasiüberprüfung von 1990 erst gar nicht erwähnt wurde. Rüdiger und Catenhusen schreiben, dass der einstige SED-Kreis- und -Bezirkschef von Potsdam alle Kriterien für eine Aufforderung zur Mandatsniederlegung erfüllt hätte. Zu dem gleichen Ergebnis kommen die Gutachter bei den damaligen FDP-Abgeordneten Alfred Pracht und Rainer Siebert sowie den SPD-Abgeordneten Lothar Englert. Auch der verstorbene PDS-Politiker Michael Schumann hätte sein Mandat zurückgeben müssen.
Auch in der Landesverwaltung wurde den Gutachtern zufolge reichlich rücksichtsvoll mit früheren Stasi-Mitarbeitern umgegangen. Praktisch wurde fast niemand wegen seiner früheren Tätigkeit für die Staatssicherheit entlassen, es gab keine einheitlichen Prüf-Kriterien in den einzelnen Ministerien. Eine Ausnahme war offenbar das damals von Marianne Birthler (Bündnis 90/Grüne) geführte Bildungsministerium, das die schärfsten Kriterien anlegte. Bei der Polizei dagegen war allein eine frühere Stasi-Tätigkeit kaum ein Grund für eine Entlassung. Damit bestätigen die Gutachter, was in den vergangenen Monaten durch die Debatte um Stasi-belastete Polizisten und Richter zu Tage trat. Innenminister Dietmar Woidke (SPD) musste mehrmals eingreifen, weil bei Beamten auf Führungsposten eine frühere, aber über Jahre verschwiegene Stasi-Tätigkeit bekannt geworden war. Auch Justizminister Volkmar Schöneburg (Linke) muss sich seit Wochen damit herumschlagen, warum Richter, die eine Stasi-Vita haben oder in der DDR Unrechtsurteile gefällt haben, in den Landesdienst übernommen wurden. Mit dem Gutachten geraten nun erneut die Arbeit der Überprüfungskommissionen für Landesbedienstete und der Richterwahlausschüsse ins Zwielicht.
Mit dem Papier wird sich die Enquetekommission zur DDR-Aufarbeitung am 24. Juni befassen – und dann nachholen, was die Autoren anmahnen: Damals hätte nicht hinter verschlossenen Landtagstüren, sondern in aller Öffentlichkeit über die Einzelfälle diskutiert werden müssen.
Allerdings sorgte das Bekanntwerden der Gutachtenergebnisse weit vor der nächsten Enquete-Sitzung für heftige Kritik. Eigentlich werden die Papiere einen Tag vor der Sitzung im Internet veröffentlicht und die Abgeordneten, die das Gutachten am vergangenen Donnerstag erhalten haben, auf die Sperrfrist hingewiesen. Insgesamt 40 Personen sind im Verteiler, also weitaus mehr als die Kommission Mitglieder hat – es sind 14, davon sieben Abgeordnete und sieben Wissenschaftler. Mit den nochmals sieben stellvertretenden Mitgliedern der Abgeordneten sogar 21. Im Verteiler sind ebenfalls Fraktionsmitarbeiter, die Landtagsverwaltung und andere Abgeordnete. Das Leck könnte also überall sein. Ausgeschlossen wurde selbst von Koalitionsmitgliedern nicht, dass das Gutachten aus ihren Reihen durchgereicht wurde, um in der Öffentlichkeit die Ergebnisse klein reden zu können.
Offiziell hat Rot-Rot aber die Opposition in Verdacht. Linksfraktionschefin Kerstin Kaiser sagte, die Weitergabe des Gutachtens „durch mindestens ein Mitglied der Enquete-Kommission verstößt erneut gegen die Grundsätze, welche wir uns für unsere Arbeit selbst gegeben haben“. Dies wiege umso schwerer, „weil mit der Vor-Veröffentlichung bereits ein Vor-Urteil verbunden ist. Eine bestimmte Bewertung steht im öffentlichen Raum, bevor Diskussion und Auseinandersetzung um das Gutachten überhaupt möglich war“. Diese Indiskretion folge „genau dem Kalkül, die offene, sachliche und seriöse Debatte zum Gutachten zu stören und dessen Bewertung vorwegzunehmen". Zu groß scheine die Furcht davor zu sein, "dass das Gutachten nicht bestehen wird“.
Die Oppositionsvertreter, Grüne-Fraktionschef Axel Vogel und Linda Teuteberg (FDP) verwahrten sich gegen den Vorwurf der Weitergabe. „Wir haben daran kein Interesse gehabt“, sagte Vogel. Er wollte auch den Inhalt des Gutachtens nicht weiter kommentieren. „Wir wollen das in der Enquete-Kommission diskutieren, dort bedarf es einer umfassenden Würdigung und Nachfragen. Jetzt ein abschließendes Urteil abzugeben, halte ich für befremdlich.“ Das Gutachten sei nun in einer Schieflage und müsse daher sofort veröffentlicht werden. „Das Gutachten haben mehr als nur die Mitglieder der Kommission erhalten“, sagte Teuteberg.
Noch am Freitag war bei der Enquete-Kommission von einem „Erfolg für ganz Brandenburg“ die Rede. Aus Sicht der drei Oppositionsparteien CDU, FDP und Grüne hat sich die nun seit einem Jahr währende Arbeit gelohnt. Auch die Linke lobt die Arbeit, lediglich die SPD gab sich bereits am Freitag schon skeptisch. SPD-Fraktionschef Ralf Holzschuher sprach vom „Jagdfieber“ der Opposition und bemängelte – kurz vor Bekanntwerden der neuen Studie – die angeblich „unzureichende Qualität einiger der wissenschaftlichen Gutachten“.
Am Wochenende nun verschärften SPD und Linke den Ton. Linke-Fraktionschefin Kaiser sagte, die Autoren der Studie folgten in ihren Grundaussagen der Opposition „mit ihrer Tendenz zur Dämonisierung und Denunziation des eigenen Landes und seines demokratischen Neubeginns“. Mit fragwürdiger Methodik „werfen die Autoren Erkenntnisse demokratisch legitimierter Gremien und Prozesse über Bord“ und „setzen sich über das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hinweg, wonach Manfred Stolpe nicht als IM bezeichnet werden darf“. Die schwierige Arbeit und Ergebnisse des „Stolpe-Untersuchungsausschusses“ und die differenzierten, sensiblen Entscheidungen der Bischofskommission würden ignoriert.
SPD-Fraktionschef Holzschuher bezeichnete das Gutachten als „rein politisch motivierte Abrechnung“, die „mit wissenschaftlicher Arbeit wenig zu tun“ hätte und das die „ganze Anmaßung und Selbstherrlichkeit“ der Autoren zeige. Hier trete „plattester politischer Meinungskampf an die Stelle differenzierter historischer Aufarbeitung“, das gefährde den Erfolg der Enquetekommission. Jeder wisse, dass Stolpe „als Kirchenjurist in der DDR die schwierige Aufgabe hatte, vom Regime bedrohten Bürgern beizustehen“. Den Autoren fehle „offensichtlich jede tiefere historische Kenntnis. Anderenfalls wären nicht auf die abwegige Idee gekommen, Manfred Stolpes wichtige kirchenjuristische Arbeit zugunsten bedrohter Menschen als ,unbeachtlich‘ abzutun.“ Selbst Bischof Wolfgang Huber habe Stolpe kürzlich zum 75. Geburtstag „allerhöchsten Respekt – ohne jede Einschränkung‘ gezollt, weil Stolpe auf der Seite der Kirche für die Freiheit der Menschen gekämpft hat."
Zugleich verteidigte Holzschuher den Brandenburger Weg und den seit 20 Jahren geltenden Konsens im Land. „Wir stehen zur Politik der zweiten Chance“, sagte er. Wenn jetzt die Opposition „auf Vergeltung statt auf Versöhnung“ setze, „werden wir das nicht mitmachen. Wir lassen nicht zu, dass Brandenburg gespalten wird.“
Die FDP-Abgeordnete Teuteberg entgegneten: „Der Brandenburger Weh ist wie alles in der Politik nicht heilig und nicht frei von Kritik. Es muss möglich sein, darüber zu diskutieren.“ Die Enquete-Kommission sei der richtige Ort dafür. „Es ist schädlich für die Debatte, wenn sich Rot-Rot nun schon vor der Sitzung inhaltlich dazu einlässt.“
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: