Brandenburg: Wenn Wasser trinken weh tut
Der Krebspatient Frank Kraus drohte zu verhungern. Knud Gastmeier, Arzt in Babelsberg, verhinderte das mit einem nichtzugelassenen Cannabis-Medikament. Die Krankenkasse will nun 51 000 Euro von ihm. Der Schmerztherapeut sagt, Marinol könnte im Land B
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Potsdam - Die Karl-Marx-Straße in Potsdam-Babelsberg ist eine gute Adresse. Dr. Knud Gastmeier führt seine Praxis in einer Villen-Gegend, unweit blitzt das Wasser des Griebnitzsees durch das Unterholz. Kräftige Bäume säumen die wenig befahrene Straße. Hierher kommen Leute wie Frank Kraus, denen das Leben momentan nicht die Sonnenseite entgegenstreckt. Der Mann aus Zahna in Sachsen-Anhalt klingelt am 20. Juli 1998 an der Tür Dr. Gastmeiers. Er hat starke Gesichtsschmerzen, eine stationäre Behandlung in einer Schmerzklinik lehnt die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) in Halle ab. Der Babelsberger Arzt ist ein namhafter Schmerztherapeut. Bis 1992 war er im Potsdamer Klinikum „Ernst von Bergmann“ Oberarzt für Anästhesiologie, einer medizinische Fachrichtung, die sich den Methoden der Schmerzausschaltung widmet. Der Arzt wird seinem Patienten helfen können. Sehr sogar, denn er wird ihm das Leben retten. Damit hätte die Geschichte ein gutes Ende haben können – wenn sie nicht eigentlich erst beginnen würde.
Dr. Gastmeier drückt an jenem 20. Juli auf den Türöffner, Frank Kraus stellt sich vor und der Potsdamer Arzt behandelt den Mann. Er erhält eine intensive Schmerztherapie. Doch Ende 1998 verschlechtert sich sein Allgemeinzustand deutlich. Der Mediziner überweist Frank Kraus zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der ihn sofort ins Bergmann-Klinikum schickt. Die dortigen Ärzte diagnostizieren am 3. Februar 1999 ein verhornendes Plattenepithel-Karzinom des rechten Zungenrandes. Frank Kraus hat Zungenkrebs, eine seltene Krankheit, die bei 60 Prozent der daran erkrankten Männer tödlich endet. Er wird operiert und erhält eine Strahlentherapie. Krebsbedingt und im Zuge der Bestrahlung benötigt Frank Kraus eine weitere Schmerzbehandlung. Dr. Gastmeier gelingt es nur vorübergehend, den Allgemeinzustand zu stabilisieren. Ende 1999 leidet Frank Kraus zunehmend an Übelkeit und Erbrechen. Er schläft schlecht und hat Schluckbeschwerden. Sein Körpergewicht verringert sich in wenigen Monaten, wie er berichtet, von 98 auf 62 Kilogramm. „Der Körper hat nichts aufgenommen.“ Seine Speicheldrüse ist von den Strahlen versengt. „Das Mundinnere ist eine schleimige Masse“, die Schleimhäute sind zerstört. Frank Kraus erläutert: „Wasser trinken tut weh.“ Klinisch habe sich die Situation so dargestellt, „dass wir ein Überleben bis zum Jahresende für fragwürdig hielten“, schreibt Dr. Gastmeier in einer Stellungnahme. „Wir haben darüber gesprochen, dass ich wahrscheinlich sterben werde“, sagt Frank Kraus.
Am 12. Mai 2000 verschreibt Dr. Gastmeier zur Appetitanregung erstmals 60 Tabletten Marinol, synthetisches Cannabis. Der Arzt hatte in einem ähnlich gelagerten Fall gute Erfolge erzielt. Die Crux aber ist: Marinol, ein Medikament der Firma Roxane, einer US-Tochter des Konzerns Boehringer Ingelheim, ist in den USA und in Kanada zugelassen – nicht aber in Deutschland.
„Hätte ich den Patienten verhungern lassen sollen?“ Gastmeier gestikuliert. Er hat „genügend Patienten verhungern sehen“ und ist sich sicher, einige hätte er retten können, wenn er Marinol oder das darin enthaltene Dronabinol vor dem Jahr 2000 zur Verfügung gehabt hätte. Auch läuft er bei Verweigerung der Behandlung Gefahr, sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig zu machen.
Die eingeleitete Therapie verbessert den Zustand von Frank Kraus schlagartig. Nach „ein paar Kapseln“ lösen sich Verkrampfungen, die Übelkeit ist nicht mehr da. Der Patient kann hochenergetische Flüssigkeiten bei sich behalten. „Ohne Marinol wäre ich gnadenlos verreckt.“ Doch es gibt Lieferschwierigkeiten. „Das war wie eine Sinuskurve“, so Frank Kraus: War das Medikament da, ging es ihm gut, war es nicht da, ging es bergab. Er hätte auch ins Krankenhaus gehen und sich dort künstlich ernähren lassen können. Doch schon bei seinem ersten stationären Aufenthalt hatte er eine persönliche Schwester, die sagte, wenn er irgendetwas brauche, „und wenn es ein Eis ist“, brauche er es nur zu sagen. Da wusste Frank Kraus, wie es um ihn bestellt ist. Sterben, sagt er, „kann ich auch zu Hause“.
Aber er stirbt nicht. Frank Kraus glaubt, dass sein langes Überleben der Grund ist, warum seine Krankenkasse Dr. Gastmeier nun für die Kosten des Marinols von nunmehr 51 000 Euro in Regress nehmen will. Und warum er nun schon seit Wochen ohne Marinol aushalten muss. Frank Kraus sagt einen Satz, der selbst wenn er nicht stimmen sollte, schlimm ist. Weil eine Krankenkasse einen solchen Vertrauensverlust seitens seiner Versicherten zu verhindern wissen sollte. Frank Kraus: „So lange die davon ausgegangen sind, dass ich nur noch drei Monate mache, haben sie es anstandslos bezahlt, als die merkten, es geht aufwärts mit mir, wurde es ihnen zu teuer.“
Wie auch bei seinen brandenburgischen Patienten hatte Dr. Gastmeier Frank Kraus Marinol verschrieben und erwartet, dass die Krankenkasse aus Sachsen-Anhalt die Kosten dafür trägt. Jörg Trinogga von der AOK Brandenburg klärt auf: Die Kasse ersetze erst einmal jedes vom Arzt verschriebene Medikament. Weil Marinol keine Pharmazentralnummer habe, seien die Marinol-Rezepte Gastmeiers unter den Millionen anderen nicht identifiziert worden. „Es ist uns nicht aufgefallen“, so Trinogga. Die AOK Brandenburg hätte die Kosten für Marinol demnach nicht explizit übernommen, sondern Gastmeier nur nicht in Regress genommen. Die AOK des Nachbarlandes Sachsen-Anhalt hätte das Marinol-Rezept für Frank Kraus „nicht sehen müssen“, warum sie es doch getan habe, darüber spekuliere er nicht.
Nun jedoch hat eine Kasse genau hingesehen. Die Folge ist nach Ansicht Gastmeiers tragisch, kaum eine Kasse übernehme mehr Kosten für Marinol. Im Frühjahr 2006 verwies die AOK Brandenburg auf ein Urteil des Bundessozialgerichts. Da es „eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel ohne deutsche oder EU-weite Zulassung verneint hat, ist eine Verordnung zu Lasten einer gesetzlichen Krankenkasse nicht möglich“. Auch die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) übernimmt aus diesem Grund die Kosten für Marinol nicht, erklärt Rüdiger Scharf von der DAK Berlin-Brandenburg.
Dass die Krankenkassen die Marinol-Rezepte nun „sehen“ und das Medikament damit praktisch für Kassenpatienten nicht mehr verschreibbar ist, hat für betroffene Patienten bittere Konsequenzen, beklagt Dr. Gastmeier. 30 Prozent aller Tumorpatienten sterben an Anorexie und Kachexie, an Unterernährung und Appetitlosigkeit, zitiert er aus „Symptomorientierte onkologische Therapie. Ein Leitfaden zur pharmakologischen Behandlung“, Seite 138, Springer Verlag 1999. Da jährlich 7000 Patienten im Land Brandenburg an Krebs sterben, so der „Sachbericht Onkologie 2004 / 2005“, rechnet der Babelsberger Arzt hoch: 2100 Krebspatienten verhungerten jährlich im Land. Einige könnten mit einem Cannabis-Präparat gerettet werden, glaubt Dr. Gastmeier, „und wenn es nur fünf sind“. Dazu Jörg Trinogga von der AOK Brandenburg: „Viele Schmerztherapeuten sagen, sie kommen ohne Dronabinol aus.“ Die von Dr. Gastmeier genannten Zahlen könne er nicht nachvollziehen. Es gebe Therapiestandards bei Übelkeit infolge der Krebs-Behandlung mit Zytostatika. So sei die künstliche Ernährung eine Kassenleistung, es müsse niemand verhungern. Die AOK Sachsen-Anhalt teilt mit, das Cannabis-Präparat für Frank Kraus sei nicht zugelassen, es hätten Alternativmedikamente eingesetzt werden können. Sprecherin Christiane Riedel: „Die Auseinandersetzung spielt sich nicht auf dem Rücken des Versicherten ab, sondern zwischen Arzt, Beschwerdeausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung und Krankenkasse.“ Sie verweist auf den Beschwerdeausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung und der Verbände der Krankenkassen im Land Brandenburg, der die AOK-Position bestätigte.
Die Hoffnungen Dr. Gastmeiers richten sich nun auf den gemeinsamen Bundesausschuss, ein Gremium von Ärzten, Krankenkassen und Krankenhäusern. Seine Aufgabe ist es zu konkretisieren, welche ambulanten oder stationären medizinischen Leistungen „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und somit zum Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung gehören“. Das Landesgesundheitsministerium geht davon aus, „dass das zwischenzeitlich von der Bundesgesundheitsministerin angeregte Verfahren zur Bewertung dronabinolhaltiger Medikamente durch den Gemeinsamen Bundesausschuss schnellstmöglich abgeschlossen“ und das Medikament zugelassen wird.
Dr. Gastmeier wehrt sich derweil juristisch gegen die AOK-Forderung über 51 000 Euro gegen ihn, die die Existenz seiner Praxis gefährde. Er hofft im Sinne der Patienten, dass der Bundesausschuss sich noch vor der Sommerpause für die Zulassung von Dronabinol-Präparaten entscheidet. Das Bergmann-Klinikum erklärt, Marinol werde bei der Therapie von Tumorkranken „sehr erfolgreich“ eingesetzt. Alternative Medikamente wie Hormonpräparate seien mit sehr viel mehr unerwünschten Nebenwirkungen verbunden. Krankenhäuser können im Gegensatz zu niedergelassenen Ärzten Marinol einsetzen. Sie haben laut Trinogga eine Pauschale für den Patienten. Welche Medikamente sie mit Hilfe dieser Pauschale finanzieren, liege „im ärztlichen Ermessen, wir sind da draußen“. Das Potsdamer Klinikum teilt weiter mit, dass Dronabinol „ein kostenintensives Medikament ist“ und „daher momentan meist nur zahlungskräftigen Patienten oder Privatpatienten zugänglich“ ist. Daher könne „unter Umständen Tumorpatienten im Finalstadium eine Therapie mit Dronabinol aus Kostengründen vorenthalten sein; andere Ernährungs-Therapieformen werden dann angewendet“.
Auf das Bergmann-Klinikum lässt Frank Kraus nichts kommen. Während seines stationären Aufenthalts hätten die Klinikumsärzte ihm Dronabinol „ohne zu Mucken“ gegeben und auch eine Weiterbehandlung mit Cannabis nach seiner Entlassung empfohlen. Dieser Empfehlung kommt derzeit aber keiner der ambulanten Ärzte nach. Aus Angst vor Regressforderungen verschreibt ihm kein Mediziner, was ihm nachweislich hilft.
Momentan wiegt Frank Kraus, wie er sagt, nur „um die 70 Kilo“.
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