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Landeshauptstadt: Botschafterin zwischen den Welten
Gudrun Hillert ist Gebärdendolmetscherin und steht auf den Bühnen der Politik und des Theaters
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Ihre Berufung fand Gudrun Hillert auf dem Bahnhof. Als 14-Jährige wartete sie dort morgens auf den Zug, der sie von ihrem Dorf zur Schule nach Braunschweig brachte. Mit ihr am Bahnsteig ein jüngeres Mädchen, auf das sie ihre Freundin schon während des Puppentheaters beim Dorffest aufmerksam gemacht hatte: Die Kleine dort in der ersten Reihe höre nichts. „Das war eine Besonderheit in so einem Kaff, wo nichts passiert“, sagt Gudrun Hillert.
Auf dem Bahnhof standen die beiden Mädchen erst verlegen nebeneinander, dann immer vertrauter miteinander. Ihre Sprache waren Gesten. Von der Fünftklässlerin lernte die Gymnasiastin später das Lautiersystem – „sie war eine gnadenlose Lehrerin“, sagt die heute 44-jährige Gudrun Hillert und lacht. Sie konnte sich bald besser mit dem Mädchen verständigen als deren Familie. Und sehr früh habe sie sich über die ungerechte Behandlung der Gehörlosen geärgert, sagt sie. Seitdem bewegt sie sich als Botschafterin zwischen den Hörenden und den Lautlosen.
Gudrun Hillert ist studierte Gebärdendolmetscherin, sie lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin. Und sie steht seit mehr als 15 Jahren auf den Bühnen der großen Politik. Immer wie ein Schatten am Rande. Sie dolmetschte für Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel. Sogar für Papst Benedikt. Auf einer Veranstaltung mit Altbundespräsident Richard von Weizsäcker im Nikolaisaal in Potsdam wäre sie fast von der Empore gefallen, erinnert sie sich, weil „der Veranstalter keine Dolmis im Bild haben wollte“. Es war ausgerechnet ein Termin des Bündnisses „Tolerantes Brandenburg“.
Gudrun Hillert sitzt in ihrem Haus in Babelsberg am Küchentisch bei einer Tasse Tee. Mit der oft Dolmetschern und Übersetzern eigenen sprachlichen Präzision erzählt sie von ihrer Arbeit. „Von der Idee der inklusiven Gesellschaft sind wir immer noch weit weg“, sagt sie und prustet mit den Lippen. Der Mehrheit falle es schwer, zu akzeptieren, dass es andere Lebensentwürfe gibt.
Alte Gehörlose erzählen heute noch, dass sie früher aus Scham vermieden, sich öffentlich in Gebärdensprache zu unterhalten. Jahrzehntelang sei ihnen vermittelt worden, sich anzupassen, ihre Hörreste auszunutzen, von den Lippen zu lesen. Dass sie durch diesen mühsamen Spracherwerbsprozess wertvolle Lebenszeit für wirkliche Wissensaneignung verloren haben – das hat Hillert „schon sehr früh sehr geärgert“.
Immerhin hat sich in den vergangenen Jahren viel verbessert: Gebärdensprache wird nicht mehr als der für Taube bequemere Weg angesehen zu kommunizieren, sondern als der geeignetere. Seit dem Behindertengleichstellungsgesetz im Jahr 2002 ist die Gebärdensprache außerdem als vollwertige Sprache anerkannt. Damit haben Gehörlose das Recht auf einen staatlich finanzierten Dolmetscher.
Nur gibt es nicht genügend Dolmetscher. Nach Angaben des Gehörlosenbundes sind in Deutschland 140 000 Menschen auf einen Dolmetscher angewiesen, es gibt aber nur rund 450 ausgebildete wie Hillert. Das heißt: Etwa 300 Gehörlose teilen sich einen Dolmetscher. Und der Bedarf steige im Zuge der Inklusion an. Gehörlose müssten sich nicht mehr damit abfinden, eine stumme Arbeit in einer Werkstatt zu verrichten. „Wenn sie kämpfen, können sie das anders machen.“ Dann sind sie erst recht auf Dolmetscher angewiesen. Der Beruf der Gebärdendolmetscher aber sei so unbekannt, weil das Wissen über gehörlose Menschen so gering sei. „Wenn Gehörlose nicht in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, dann ist auch der Beruf nicht in der Öffentlichkeit.“
Dass Gebärdendolmetscher auf der Bühne stehen, ist eher die Ausnahme. Amtsgänge mit den tauben Menschen, Vermittlung, Beratung – „man muss auch sagen: viel unbezahlte Arbeit“, sagt Hillert, selbst Mutter dreier Kinder. Es werde unterschätzt, welche Probleme dadurch entstehen, dass für Gehörlose nicht oder schlecht gedolmetscht wird. „Ich erlebe es immer noch, dass ich auf einem Amt dolmetsche und die hörende Seite sagt: ,Was wir jetzt in 20 Minuten besprochen haben, habe ich in den letzten drei Jahren nicht erfahren.’“
Manchmal steht Hillert aber auch mitten auf der Theaterbühne. Mit Lampenfieber und jeder Menge Spaß, das sieht man ihr an. Viel temperamentvoller wirkt sie dann als im Gespräch, gestikuliert und lässt ihre Mimik spielen. Für eine gehörlose Studentin dolmetschten Hillert und eine Kollegin die Semestereröffnungsfeier der Fachhochschule im Hans Otto Theater. Auch die Musikeinlage aus „La Cage aux Folles“, einer aktuellen Produktion. Eigentlich war ein ganz anderes Lied mit den Dolmetscherinnen abgesprochen, spontan musste Hillert improvisieren. Dem Publikum ist es nicht aufgefallen, eher ihre starke Bühnenpräsenz, wenn sie Musik dolmetscht. Dann singt sie mit ihren Armen, ihre Hände fliegen über ein imaginäres Klavier und sie wiegt sich wie auf einer Welle. Fast stiehlt sie dem Schauspieler die Show. Das sei nur eine Wahrnehmung, wiegelt Hillert ab, sie übertrage einfach nur die Musik ins Visuelle. Mit einer ganz eigenen Schönheit.
Bei der Arbeit mit Kunst sei es ihr Anspruch, gehörlosen Menschen ein ästhetisches Erlebnis zu ermöglichen. „Wenn sie Musik und Theater einmal in ihrem Leben erleben dürfen, dann soll davon ein positiver Eindruck bleiben.“ Manche würden mit Gebärdensprache hässliche Grimassen verbinden. Um so wichtiger ist es ihr, ein anderes Bild zu vermitteln.
In den vergangenen Tagen stand sie wieder auf der Bühne. Als lautlose Schattenschauspielerin bewegt sie sich zusammen mit ihrem Kollegen Christian Pflugfelder in Aufführungen des Hans Otto Theaters für Gehörlose – vor allem für Kinder. Das Theater in der Schiffbauergasse ist dann bis auf den letzten Platz gefüllt mit stillen Kindern. Das Hans Otto Theater sei das einzige Theater bundesweit, das seit mehr als 15 Jahren kontinuierlich Aufführungen für Gehörlose anbiete, sagt Theaterpädagogin Manuela Gerlach, die das Programm betreut. „Im Haus sind alle begeistert von den beiden Dolmetschern“, sagt sie. Nichtsdestotrotz sei es immer wieder ein Kampf, Gelder dafür zu erhalten.
Den Kampf um die Finanzierung von Dolmetschern kennt auch Hillert. Nach der Arbeit bedankten sich oft die Auftraggeber bei ihr. Nur, fragt Hillert: „Warum muss man vorher so lange darüber reden, dass es auch Geld kostet?“ Wenn jemand eine andere Sprache spreche, sei er ohne Übersetzung auch ausgeschlossen. Oft bedanken sich Auftraggeber und Zuschauer aber auch für die Schönheit ihrer Gebärdensprache: Ursula von der Leyen etwa ist nach einem Gottesdienst in Berlin, den Gudrun Hillert dolmetschte, zu ihr gekommen und hat ihr die Hand gegeben. Selten so eine schöne Gebärdendolmetschung gesehen, hat die Ministerin zu ihr gesagt.
Grit Weirauch
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