
© Andreas Klaer
Landeshauptstadt: Das größte Hindernis besteht im Kopf
Potsdams Gleichstellungsbeauftragte Martina Trauth-Koschnick und Anke Latacz-Blume, Fachbereichsleiterin Soziales, Gesundheit und Umwelt, über Inklusion an Potsdams Schulen
Stand:
Im kommenden Schuljahr sollen Kinder mit Lern-, Sprach- und Verhaltensschwierigkeiten in Potsdam erstmals regulär an städtischen Grundschulen aufgenommen werden. Das von Bildungsministerin Martina Münch vorgeschlagene Pilotprojekt ist die Antwort auf die Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention nach „Inklusiver Bildung“.
Die Inklusionsdebatte erregt dabei die Gemüter aller Beteiligten: Eltern, Lehrer, Politiker, Gewerkschafter. Vorwürfe, Ängste, aber auch Hoffnungen und Ermutigungen wurden auf allen Seiten ausgesprochen.
Seit fest steht, dass die acht städtischen Schulen sowie die Neue Grundschule Potsdam an dem Projekt teilnehmen, gibt es kein Zurück. Es könnte, hofft Potsdams Gleichstellungsbeauftragte Martina Trauth-Koschnick, der Beginn eines umfangreichen Prozesses sein. Denn: „Inklusion bezieht sich nicht nur auf Schule, es bedeutet, dass alle Menschen unabhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung und Gesundheitszustand am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Sie sollen frei wählen können, welche Angebote sie nutzen wollen und welche nicht. Das ist derzeit nicht möglich.“
Das größte Hindernis bestehe im Kopf: Behinderung gleich Defizit gleich Kosten, erklärt Trauth-Koschnick die Gedankenabfolge. Dass das nicht immer stimmen muss, hat Kollegin Anke Latacz-Blume, Fachbereichsleiterin Soziales, Gesundheit und Umwelt, in Holland erlebt. Dort seien barrierefreie Reihenhäuser Standard und somit billiger zu haben als die Sonderanfertigung mit schmalen Türen und hoher Duschtasse. „Es geht also“, sagt die Verwaltungsfrau. Das Umdenken müsse im Kopf beginnen.
Auch deshalb ist eine der Forderungen, die im Teilhabeplan von der AG Bildung festgeschrieben wurde, dass in Weiterbildungsmaßnahmen für Pädagogen investiert werden muss. Langfristig sei zu überlegen, das Fachgebiet Sonderpädagogik komplett in die Ausbildung sämtlicher pädagogischer Berufe zu integrieren. Ebenso würden Ansprechpartner für Eltern, Erzieher und Lehrer zur Begleitung des Inklusionsprozesses gebraucht.
Das Wunschpaket der AG-Bildung, das der Stadtverordnetenversammlung und dann dem Land übergeben werden soll, deckt sich damit teilweise mit den Maßnahmen und Vorschlägen des Bildungsministeriums. „Wir setzen auf Neueinstellungen, Fortbildungen und langfristig eine Umstellung der Ausbildung, damit die Pädagogen auf die heterogene Schülerklientel vorbereitet sind“, sagte Ministeriumssprecher Stephan Breiding gegenüber den PNN.
Derzeit seien genügend qualifizierte Lehrkräfte vorhanden, um den Bedarf an zusätzlichen 100 Lehrern zu decken. Die sollen laut Breiding den 73 in ganz Brandenburg teilnehmenden Grundschulen zur Verfügung stehen. Zwei Millionen Euro wird das noch in diesem Jahr kosten. Verteilt werden die zusätzlichen Lehrkräfte nach folgendem Prinzip: Für fünf Prozent der Gesamtschülerzahl (der beteiligten ersten Klassen) gibt es pro Schüler 3,5 Lehrerwochenstunden dazu. Das ergibt bei 100 Erstklässlern inklusive Kinder mit Förderbedarf 17,5 Stunden, eine knappe halbe Stelle, die die Schulleitung nach Belieben einsetzen kann. Bei höchstens 23, maximal 25 Kindern pro Klasse rein rechnerisch eine halbe Stelle für vier oder fünf erste Klassen.
„Bundesweit geht man von einem durchschnittlichen erhöhten Bedarf von vier Prozent aus, wir haben das noch erhöht“, sagt Breiding. Außerdem bestünden „Nachsteuerungsmöglichkeiten“, bei einigen Schulen sei jetzt schon klar, dass das nicht ausreicht.
Wie viele Kinder mit Förderbedarfen die Schulen aufnehmen, sollen diese selbst entscheiden. Aber „zehn Kinder pro Klasse, das wird es natürlich nicht geben“, sagt Breiding. Und macht folgende Rechnung auf: Würde man sämtliche Kinder Brandenburgs auf Regelschulen aufteilen, kämen in jede Klasse ein oder zwei. Ab 2015, wenn das Projekt in die Fläche geht und die Förderschulen tatsächlich sukzessive abgebaut werden, wird dann selbstverständlich die Regelschule für alle zur Regel werden. Natürlich werden Förderschulen erhalten bleiben für Kinder mit schweren oder mehrfachen Behinderungen.
Der nächste Schritt folgt, wenn die ersten Kinder die Grundschule verlassen: Dann beginnt das Pilotprojekt an den weiterführenden Schulen, was hoffentlich dazu führen wird, dass weniger Schulabgänger am Ende ohne Abschluss dastehen. Ein Großteil dieser sind derzeit Förderschüler.
Die Chance von „Inklusive Schule“ liegt im gemeinsamem Lernen, von dem alle Kinder profitieren – wenn denn genügend Personal da ist, das die Bedürfnisse und Talente aller Kinder, auch der Hochbegabten, erkennt. Ministerin Münch hat während zahlreicher öffentlicher Auftritte versprochen, dafür zu sorgen.
Seitens der Stadt ist eine Umstrukturierung der bisher zwei Anlaufstellen für die Beantragung von Eingliederungshilfen geplant. Künftig soll ein Fallmanager für alle Kinder zentral zuständig und erreichbar sein. Unabhängig von diesem Pilotprojekt soll bis 2014 etwa die Hälfte aller städtischen Schulen barrierefrei sein – und dazu gehöre mehr als ein Aufzug. Nach derzeitigem Stand sind das bereits elf Schulen, drei kommen 2013 dazu.
Für die am Projekt teilnehmenden Grundschulen Rosa Luxemburg, Am Humboldtring, Am Pappelhain, Im Kirchsteigfeld, Hanna von Pestalozza, Montessori sowie Hauptmann- und Goethe-Grundeschule ergibt sich dabei nicht zwingend die Notwendigkeit einer Barrierefreiheit. „Kinder mit Förderbedarfen in den Bereichen Lernen, sozial-emotionale Entwicklung und Sprache sitzen ja nicht gleich im Rollstuhl“, sagt Trauth-Koschnick.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: