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Homepage: Den Rechtsstaat ausgehebelt

In der Gedenkstätte für die Opfer politischer Gewalt wurde der Sammelband „Strafjustiz im Nationalsozialismus“ vorgestellt

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Im Dezember 1937 hat der Leiter der psychiatrischen Landesanstalt Potsdam und Brandenburg-Görden, Hans Heinze, die „Unfruchtbarmachung“ der 11-jährigen Martha G. angeordnet. Der Befehl dazu kam aus dem Erbgesundheitsgericht in der Potsdamer Lindenstraße 54/55. Das geht aus einer Akte hervor, die die Historikerin Dr. Petra Fuchs bei ihren Recherchen über das einstige Gerichtsgefängnis entdeckte. Sie schrieb darüber im gerade erschienenen Sammelband „Strafjustiz im Nationalsozialismus“, der kürzlich am historischen Ort, der heutigen Gedenkstätte für die Opfer politischer Gewalt im 20. Jahrhundert in der Lindenstraße, vorgestellt wurde. In ihrer gemeinsamen Veranstaltungsreihe „Menschen unter Diktaturen“ hatten das Potsdam Museum und das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) zu der Buchpräsentation eingeladen.

Vielen ist die Gedenkstätte hauptsächlich bekannt als ehemaliges Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes (später KGB) und als Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit der DDR. Petra Fuchs lenkte nun in ihrem Beitrag den Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus, als die jetzige Gedenkstätte Erbgesundheitsgericht, Haftanstalt für Zwangsarbeiter und Untersuchungsgefängnis war.

Der Sammelband über die „Strafjustiz im Nationalsozialismus“ wird die Grundlage für eine das Thema dokumentierende Ausstellung bilden, die voraussichtlich 2010 eröffnet werden soll, kündigte Hans-Hermann Hertle vom ZZF an. Im Zuge dessen soll der Gerichtssaal nachgebaut werden, ergänzte Claus Peter Ladner, Vorsitzender der Fördergemeinschaft „Lindenstraße 54“.

Elf Autoren haben neueste Forschungsergebnisse über die politische Strafjustiz als Mittel zur rassischen Verfolgung in Brandenburg und anderen Regionen des nationalsozialistischen Deutschlands von 1933 bis 1945 für den Sammelband zusammengetragen. Als Petra Fuchs während der Buchpräsentation aus ihrem Beitrag die Geschichte der Zwangssterilisation der 11-jährigen Martha G. vortrug, war die Aufmerksamkeit und Anteilnahme der zahlreichen Zuhörer groß. Der Vater habe noch Beschwerde gegen die Anordnung gestellt, doch vergeblich, berichtete Petra Fuchs.

Das Erbgesundheitsgericht kam in den Jahren von 1934 bis 1944 in der Lindenstraße 54 zusammen. Hier entschieden ein Amtsrichter und zwei beratende Ärzte regelmäßig über die Zwangssterilisation von psychisch kranken Menschen. Derartige Gerichte entstanden auf Grund des „Gesetzes zur Verhütung von erbkranken Nachwuchses“, das am 14. Juli 1933 von den Nationalsozialisten verabschiedet wurde. „Mehr als 4000 Fälle von Zwangssterilisationsverfahren gab es in Potsdam.“ Diese hohe Anzahl von Aufträgen sei auf die Aktivitäten Hans Heinzes in der psychiatrischen Landesanstalt zurückzuführen, so die Referentin.

Überdies wurden im Gerichtsgefängnis Zwangsarbeiter inhaftiert, von denen fast die Hälfte ausländischer Herkunft gewesen sind. Die meisten stammten aus Frankreich, Belgien und Tschechien. Einige jüdische „Angeklagte“ habe es auch gegeben. „Viele Inhaftierte wurden aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt“, sagte die Historikern. Aber auch Delikte wie Diebstahl, die durch die schlechten Lebensbedingungen in den Zwangsarbeiterlagern häufig vorgekommen seien, führten zur Gefängnisstrafe. Ein 17-jähriger polnischer Schlosser, der in Rathenow arbeitete, wurde deswegen zu zwei Wochen Haft verurteilt.

Das Gefängnis in der „Lindenstraße 54“ diente zudem als Untersuchungsgefängnis für die Angeklagten des Berliner Volksgerichtshofes, der nach einem Bombenangriff im Februar 1944 nach Potsdam in die Kaiser-Wilhelm-Straße ausweichen musste. Der Volksgerichtshof sei ein Sondergericht gewesen. „Schon allein diese Art von Gericht hebelt einen Rechtsstaat aus“, erklärte Dr. Thomas Schaarschmidt vom ZZF. Denn Urteile, die dort gefällt wurden, hätten sofort Rechtskraft erlangt. „Das Recht wurde im NS-Regime regelrecht pervertiert“, fügte er hinzu.

Dokumente für 142 Angeklagte in Brandenburg hat die Historikerin Petra Fuchs bereits gefunden. Darunter eine Akte der ukrainischen Konservenarbeiterin Nadja E., die nur aus zwei Blatt Papier bestehe. Die 17-Jährige sei aus dem Konzentrationslager Ravensbrück nach Potsdam überführt worden. „Es gibt nicht einmal einen Grund für ihre Inhaftierung“, beklagte Petra Fuchs. Unter dem Punkt Straftat stehe einzig und allein ein Fragezeichen. Susanna Maier

Susanna Maier

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