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Landeshauptstadt: Der Grenzgänger

In den Westen konnten sie nicht – in den Osten sollten sie nicht. Die zu DDR-Zeiten illegalen Russlandreisenden treffen sich noch heute regelmäßig. Der Potsdamer Ulrich Henrici gehört dazu

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Die alten Schwarz-Weiß-Abzüge wölben sich schon. Ulrich Henrici greift nach einem vergilbten Bild und sagt, beiläufig fast: „Auf dem Gletscherbruch wären wir beinah draufgegangen.“ Der zerrissene, aufgeworfene Gletscher wälzt sich den Elbrus im Kaukasus hinunter, mit 5642 Metern der höchste Gipfel Europas, zehn Kilometer von der Grenze zu Asien entfernt. Als Ulrich Henrici 1982 den Aufstieg im Grenzgebiet zwischen Russland und Georgien versucht, muss er erleben, wie zwei Bergsteigerinnen vor ihm in einer Gletscherspalte verschwinden. Er schafft es hinauf und hinunter, es ist der vorläufige Höhepunkt seiner Bergsteigerkarriere. Henrici schaffte auch noch die Siebentausender im Pamir. Wobei dem Klettern ganz andere Hürden vorausgingen.

Henrici gehörte zur UdF-Bewegung, „Unerkannt durch Freundesland“, eine DDR-Erscheinung, der damals etwa 1000 Leute angehörten. So genau sei die Zahl nicht zu ermitteln, sagt Henrici, in der Szene hielt man sich bedeckt. „Erst wenn man sich lange kannte und vertraute, outete man sich als illegaler Russland-Reisender“, sagt Henrici. Der 72-jährige Potsdamer, der heute als Rentner in Beelitz lebt, galt und gilt als die Instanz in Sachen UdF. Auch 25 Jahre nach der Wende und Grenzöffnung verbindet die Russland-Reisenden das gemeinsame Abenteuer, sie treffen sich regelmäßig, im April im Hause Henricis.

Von 1977 an reiste der Potsdamer insgesamt 19-mal illegal und höchst individuell durch die Sowjetunion, damals gern abgekürzt SU. Dorthin gelangte man sonst nur mit organisierten Reisegruppen oder in Einzelfällen auf persönliche oder offizielle Einladung. Auch nach der Wende war Henrici einige Male dort, dann aber wurden andere Ziele interessanter. Außerdem habe sich bald die Atmosphäre in der ehemaligen SU verändert. Zu kommerziell wurde es, sagt er, alle wollten plötzlich Geld.

Er schwärmt von der großartigen Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit, mit der die Sowjetbürger ihnen damals begegneten, in den Siebzigern und Achtzigern. „Lebensmittel, Konserven und so, haben wir nur das erste Mal mitgenommen, dann wussten wir: Du kommst an keiner Jurte, keiner Hütte vorbei, ohne eingeladen zu werden. Oder es lag morgens vor dem Zelt ein Fladenbrot, das ein Reiter uns hingeworfen hatte“, sagt Henrici.

Was für eine Zeit. Hunderte DDR-Bürger trieb es damals halb legal über die Grenze, manche, wie den Hobbybergsteiger Henrici, mehrmals im Jahr. In den Westen durften sie nicht, der frei zugängliche Teil des Ostblocks war bald abgegrast. Der Zufall kam ihnen dabei zu Hilfe: Nach dem Prager Frühling 1968 gab es ein Einreiseverbot in die Tschechoslowakei. Wer in den Süden wollte, nach Ungarn, Bulgarien, Rumänien, musste einen Umweg über die SU machen – und bekam ein Durchreisevisum, gültig für zwei Tage. In der SU verließ man dann den gebuchten Zug oder Bus – und begann, sich in kleinen Grüppchen auf eigene Faust durchzuschlagen. Sofern man sich nicht von Miliz oder KGB erwischen ließ, konnte man ziemlich ungestört weit ins Landesinnere vordringen. „Manche schafften es mit ihrem Sozialversicherungsausweis bis nach China“, sagt Cornelia Klauß, selbst UdF-Reisende und Mitherausgeberin des Buches „Unerkannt durch Freundesland“ mit Reiseberichten und Fotos über fast 20 Jahre Russland-Reisen.

Gerade Bergsteiger nutzten die Möglichkeit, in den Gebirgen Zentralasiens endlich einmal unter Hochgebirgsbedingungen zu klettern – auch Ulrich Henrici. Als Kind während der Nachkriegszeit hatte er wenig Ablenkung, sagt er. „Da ging es ums Überleben.“ Dann kletterte er zunächst in der Sächsischen Schweiz, in der Hohen Tatra und in den Karpaten. Abseilen übte er damals unter anderem an der Giebelwand seines Einfamilienhauses. 1982 gründete er, mit 17 Kletterern, die Sektion Bergsteigen in der BSG Turbine Potsdam. Und eignete sich einige Tricks an, um sich und seine Gruppen unbehelligt durchs Bruderland zu führen. Ganz wichtig waren eindrucksvolle Papiere. So besorgte er sich vom hiesigen Polizeirevier stapelweise sehr offiziell aussehende Dienstreiseformulare, außerdem fantasievolle Stempel, die ein Potsdamer Stempelladen anfertigte. Mit farbigen Papieren, bestempelt und schwungvoll von irgendjemandem unterschrieben, konnte man sich bei Kontrollen gut rausreden, beispielsweise als offizielle Sportlerdelegation ausgeben.

Wichtig für das Reisen und Überleben in der Sowjetunion, wo die Menschen jenseits der Großstädte oft sehr einfach oder gar in Armut lebten, waren Umtauschobjekte. „Sportabzeichen und Wimpel waren heiß begehrt, aber auch Jeans – und vor allem Kaugummi.“ Den schleppten sie Kiloweise über die Grenze, er öffnete ihnen viele Türen. Einmal bekamen die Wanderer mit ihren schweren Rucksäcken, oft 50 Kilogramm, für eine Strecke sogar Pferde überlassen. „Die waren, wie das dort üblich ist, ohne Sattel, wir krallten uns also in die Mähne – die Kirgisen müssen sich totgelacht haben über uns“, sagt Ulrich Henrici amüsiert.

Seine Erinnerungen hat Henrici längst in mehreren Büchern aufgeschrieben, sie sind auch in das Buch „Unerkannt durch Freundesland“ eingegangen. Geblieben sind ihm auch viele Fotos und Filme, acht Millimeter, Super Acht, dann 16 Millimeter. Und die Tatsache, dass er nachts immer warme Socken tragen muss. Die Füße werden schlecht durchblutet, sagt er, seit sie ihm 1989 am und auf dem Pik Lenin erfroren sind. Auch die Finger erfror er sich bei dieser Tour auf den mit 7134 Metern zweithöchsten Gipfel im Pamir. Zurück im Lager versorgte man ihn notdürftig und flog ihn nach Moskau, wo man ihm beide Füße amputieren wollte. Er jedoch verlangte, nach Hause geflogen zu werden. Im Potsdamer Bezirkskrankenhaus wollte man dem Mann mit Erfrierungen – in Deutschland war Hochsommer – kaum glauben. Und er hatte Glück, ein neues Medikament, Westimport, rettete Hände und Füße. Er konnte zusehen beim Heilungsverlauf, streifte sich die kaputte, schwarze Haut wie Handschuhe ab, sagt er mit einer entsprechenden Geste.

Der Mann, der zunächst bei der Defa arbeitete, dann Lehrer war, später Korrektor bei einem Verlag und außerdem Trauerredner, kann unendlich viel erzählen. Davon, wie ihm in Moskau Kamera und Filme mit kostbaren Aufnahmen geklaut wurden, oder wie sie nicht nur im Lkw, auch mit Hubschrauber und Flugzeugen per Anhalter im Land unterwegs waren. „Man muss nur vorher mit dem Piloten eine Flasche Wodka trinken.“ Und er erzählt von der abenteuerlichen Materialbeschaffung. Professionelle Kletterausrüstung war in der DDR schließlich nicht zu bekommen. „Wir besorgten die Daunen im Kaufhaus am Alexanderplatz, guten Stoff bei den Tschechen und ein Schneider in Dresden nähte daraus Jacken, Hosen, Handschuhe und Füßlinge.“ Eisschrauben für die Bergschuhe gab es nur bei den Russen – im Tausch für Karabinerhaken aus der DDR.

Dass ihn die Stasi beobachtete, weil zwar die meisten UdF’ler zurückkamen, manche aber auch versuchten, über China oder die Mongolei in den Westen zu gelangen, darüber regte er sich nicht auf. Das war eben so. Er blieb entspannt, nahm sogar seine Kinder des Öfteren mit auf Tour, immer zwei oder drei, wenn zum Beispiel seine Frau schwanger war oder mit einem Baby zu Hause blieb. „Ich hab neun Kinder“, sagt er und lächelt. „Ich liege in jeder Hinsicht außerhalb der Norm.“

„Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch die Sowjetunion“, von Cornelia Klauß und Frank Böttcher, Lukas Verlag, Berlin 2012, kostet 26,80 Euro

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