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SERIE 100 JAHRE ERSTER WELTKRIEG: „Der Reichskanzler hatte sich verzockt“

Der Potsdamer Militärhistoriker Michael Epkenhans über die herausgehobene Rolle der Politik beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges

Stand:

Herr Epkenhans, 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat der Historiker Christopher Clark die Schuldfrage neu gestellt. Zu welchem Ergebnis kommen Sie?

Es ist Christopher Clarks großes Verdienst, dass er die Frage nach der Verantwortung für Krieg in einen internationalen Kontext eingebettet hat. Gleichwohl bin ich der Meinung, dass er die Rolle Deutschlands und auch Österreichs bei Ausbruch des Krieges unterschätzt. Aus seiner Sicht tragen die Franzosen und Russen, vor allem aber auch die Serben die Hauptverantwortung. Das widerspricht den soliden Forschungsergebnissen der vergangenen Jahrzehnte.

Inwiefern?

Wenn sich Deutschland und Österreich nicht zu Beginn der Krise entschieden hätten, eine österreichische Strafexpedition gegen Serbien durchzuführen, dann wäre die Krise als solche nicht in dieser Form eskaliert.

Sie haben sich vor allem mit dem Verhältnis zwischen der militärischen und zivilen Führung in Deutschland auseinandergesetzt. Stand Deutschland 1914 tatsächlich vor einem unvermeidlichen Krieg, wie Generalstabschef Helmuth von Moltke im Mai 1914 sagte?

Aus Sicht der Militärs erschien 1914 ein Präventivkrieg schon als erforderlich. Aber letztlich war es eine Entscheidung der Politiker, diesen dann tatsächlich auch herbeizuführen. Das darf man nicht vergessen. Die Militärs haben in Deutschland zwar eine wichtige Rolle gespielt, aber die Entscheidungen über Krieg und Frieden sind letztlich von der Politik getroffen worden.

Der Kaiser versuchte noch abzubremsen, aber Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg hintertrieb das dann.

Die Rolle von Wilhelm II. im Hinblick auf die Auslösung des Ersten Weltkriegs ist oft überschätzt worden. Wilhelm hat sicherlich eine wichtige Rolle gespielt. In entscheidenden Tagen, sowohl zu Beginn der Julikrise nach dem Attentat von Sarajevo als auch am Ende der Krise hat er sich sehr konstitutionell verhalten und in allen wichtigen Fragen immer den Rat des Kanzlers eingeholt. Der Kanzler ist derjenige gewesen, der am Ende entschieden hat, die Sache eskalieren zu lassen. Er wollte die Entente, das Bündnis England-Frankreich-Russland, testen. Das ging daneben, er hatte sich schlichtweg verzockt.

Warum?

Ein Rückzieher des russischen Zaren wäre ein diplomatischer Erfolg gewesen. Dass der Zar sich dann aber doch hinter Serbien gestellt hat, hatte Bethmann Hollweg zu vermeiden gehofft. Ihm war klar, dass dies einen Kontinentalkrieg bedeutete. Er war aber bereit, diesen auch zu riskieren. Er vertraute der Einschätzung des Generalstabs, dass Deutschland in der Lage wäre, diesen Kontinentalkrieg auch zu gewinnen.

Nach dem Krieg sagte Bethmann Hollweg, der Krieg sei durch Diplomatie zu vermeiden gewesen. Im Rückblick klingt das kaum glaubwürdig.

Die Beurteilung Bethmann Hollwegs ist ziemlich schwierig. Es gibt viele Aussagen von ihm, die nicht zusammenpassen. In den Wochen und Monaten vor Ausbruch der Julikrise hatte er immer wieder gesagt, dass man Geduld haben solle, dass Deutschland keinen Krieg brauche, weil man die Welt demnächst aufgrund der eigenen wirtschaftlichen Stärke ohnehin kaufen könne. In der Julikrise drohte er dann aber mit Krieg, um den politischen Handlungsspielraum zu erweitern. Warum er sich dazu entschieden hatte, wissen wir nicht, es gibt nur wenige Aufzeichnungen. Es gibt aber Hinweise, dass ihn Nachrichten über einen engeren Zusammenschluss der Entente dazu brachten, deren Zusammenhalt zu testen.

War denn den Beteiligten damals überhaupt klar, dass es keinen kleinen Konflikt, sondern einen Weltkrieg geben würde?

Alle haben gehofft, dass es ein kleiner Krieg bleiben würde. Sicher waren sie sich aber nicht; die Bündnisabsprachen und die Logik der Aufmarschpläne sprachen eher dagegen. Hinzu kommt: Auch auf die Frage, ob es einen kurzen oder langen Krieg geben würde, konnten die Militärs keine klare Antwort geben. Ein längerer Krieg konnte nicht ihr Ziel sein, weil dies starke Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft haben würde und im Ausgang kaum berechenbar war. Das war ein Horrorszenario. Ihr Ziel musste es sein, mithilfe eines schnellen Angriffs und eines möglichst harten Zuschlagens den Krieg so schnell wie möglich zu entscheiden, wie später in den Blitzkriegen.

Auch wenn Sie die Kriegstreiber in der Politik sehen, das Militär hatte damals in Deutschland eine besondere Stellung.

Das Militär hatte vor 1914 und während des Krieges eine Sonderstellung, weil es aufgrund der Verfassung natürlich nur begrenzt dem Einfluss des Kanzlers unterstand. Dennoch muss man immer im Hinterkopf haben, dass sowohl zu Bismarcks Zeiten als auch im späteren Verlauf des Kaiserreichs sich die Militärs, bei allem Druck, den sie ausüben konnten, letztlich doch an die Verfassung gehalten haben. Die Frage nach Krieg oder Frieden war am Ende eine politische Frage.

Das Militär hatte aber auch Einfluss auf die Politik?

Tatsächlich darf man nicht vergessen, dass die Lagebilder, die die Militärs den Politikern aufzeichneten, diese beeinflusst haben. Die Politiker kannten sich in diesen Fragen nicht aus, sie mussten sich auf das verlassen, was ihnen geraten wurde. Aber auch da ist es interessant zu sehen, dass Generalstabschef Moltke dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Gottlieb von Jagow, im Mai 1914 dringend nahe legte, so bald wie möglich einen Präventivkrieg herbeizuführen. Der Staatssekretär entgegnete, dass es dafür keinen Grund gebe. Womit sich Moltke dann auch zufrieden gab.

Die Militärs rechneten vor der Julikrise nicht wirklich mit Krieg, vielmehr weilte man im Urlaub.

Moltke und General Erich von Falkenhayn waren tatsächlich verreist. Und sie kamen auch nicht aus dem Urlaub zurück, um einen Krieg zu fordern. Moltke schickte keine Telegramme aus Karlsbad, dass dies nun die Gelegenheit zum Angriff sei. Falkenhayn schrieb aus Juist vielmehr an Moltke, dass er nicht glaube, dass sich aus der Krise noch mehr entwickeln werde. Die Entscheidungen damals, das Wagnis einzugehen, kam insofern allein von der Politik, sie alleine bestimmte die Richtung, als auch den Grad des Risikos. Das wird immer wieder übersehen.

Keine Kriegsbegeisterung beim Militär?

Natürlich gab es auch im Generalstab Personen, die anders gedacht haben. Die entscheidenden Personen aber, also Falkenhayn und Moltke, die blieben erstaunlich passiv. Die drängten erst am Ende der Julikrise die Politiker zu einer Entscheidung. Jeder Tag, so ihre Argumentation, der verloren gehe, verringere die Chancen auf einen Sieg. Dieses Drängen hat dann natürlich das Handeln der Politiker beeinflusst.

War Krieg damals nicht auch ein Stück Zeitgeist?

Es gab natürlich in der Zeit viele Stimmen, die den Krieg für außerordentlich wünschenswert hielten. Und auch für etwas, das der Natur des Menschen und dem Verhältnis zwischen den Staaten entspreche. Der Topos vom unvermeidlichen Krieg ist aber nur die eine Seite. Auf der anderen Seite gab es auch sehr viele Stimmen, die vor dem Krieg warnten. August Bebel etwa sprach vom großen Kladderadatsch, den es zu verhindern gelte. Man ahnte, welche Folgen ein Krieg haben würde.

Und zwischen den Staaten?

Gerade 1913 und 1914 gab es viele Versuche, die Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten zu entspannen. 1914, just in der Julikrise, hatte zum ersten Mal nach zehn Jahren ein englisches Geschwader an der Kieler Woche teilgenommen – um deutlich zu machen, dass die Zeit der Spannung zumindest in Teilen vorüber ist. Das Signal „We will be friends forever“ war durchaus ehrlich gemeint. Dass diese „Freunde“ sich dann vier Wochen später in der Nordsee gegenüberlagen, steht auf einem anderen Blatt.

War die Angst vor der Aufrüstung in Frankreich und Russland berechtigt?

Natürlich haben die Russen und die Franzosen massiv aufgerüstet, genauso wie die Deutschen. Diese hatten die Aufrüstungsspirale mit ihren Wehrvorlagen 1912/13 ja überhaupt erst in Gang gesetzt. Aus dem Mitrüsten der anderen aber den Schluss zu ziehen, dass ein Präventivkrieg notwendig sei, weil diese in drei oder vier Jahren möglicherweise angreifen wollen, ist natürlich etwas schwierig. Das große Dilemma dieser Situation war, dass es nicht wirklich gelang, das tief sitzende gegenseitige Misstrauen zu überwinden.

Es gab beim Militär die Vorstellung, einen großen Krieg schnell gewinnen zu können, so lange die Wahrscheinlichkeit angegriffen zu werden erst einmal gering war.

Das ist eine paradoxe Situation. Das finden wir im Denken mancher Generalstäbler, die sagen, gerade weil die anderen nicht so weit sind, greifen wir jetzt an. Solch ein Denken wird dann auch schnell zu einer selbst erfüllenden Prophezeiung, da sie die Bereitschaft verringert, nach politischen Lösungen zu suchen.

Inwiefern waren Kriege damals etwas Normales?

Man muss sich immer vergegenwärtigen, dass der Krieg oder auch die Drohung mit diesem im ausgehenden 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein legitimes Mittel der Politik war. Nicht nur aus der Sicht der Militärs, sondern auch aus der Sicht der Politik. Auch muss man sich immer klar machen, dass Politiker in Krisenzeiten damals viel weniger miteinander gesprochen haben. Es gab kein rotes Telefon, das heute helfen kann, durch das direkte Gespräch Krisen zu entschärfen. Das konnten internationale Konferenzen oder über die Botschafter vermittelte Telegramme nicht ersetzen. Dass Bethmann Hollweg den englischen Premierminister, den russischen Außenminister oder den französischen Präsidenten anruft und im direkten Gespräch nach Lösungen sucht, war damals nur schwer vorstellbar.

Wenn man nun das Verhältnis von Staat und Militär damals in Deutschland betrachtet, was können wir heute daraus lernen?

Man kann gegenüber den Militärs nicht oft genug betonen, wer den Primat hat. Und dass die Politik versuchen muss, sich in das Denken der Militärs hineinzudenken, um deren Vorschläge zu verstehen. Nur so kann man auch die Folgen beurteilen.

Fühlen Sie sich durch die aktuelle Krim-Krise an 1914 erinnert?

Ich warne immer vor falschen Analogien. Ich finde es auch falsch, dass Historiker heute die Situation 1914 mit dem Balkankrieg von 1999 vergleichen. Das ist nicht vergleichbar. 1914 hat jeder gewusst, dass aus einem Balkankrieg ein Weltkrieg entstehen kann. 1999 war die Situation komplett anders. Dies gilt in gleicher Weise für die Krim-Krise. Es ist immer gut, wenn Menschen versuchen, aus der Geschichte zu lernen, aber sie sollten dennoch nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Das kann völlig falsche Schlüsse zur Folge haben.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Zuletzt hat Michael Epkenhans zusammen mit Carmen Winkel den Band „Die Garnisonkirche Potsdam zwischen Mythos und Erinnerung“ veröffentlicht, Rombach Verlag, 2013, ISBN 978-3-7930-9729-7

Michael Epkenhans (58) ist leitender Wissenschaftler am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Potsdam. Der Erste Weltkrieg ist ein Schwerpunkt von ihm.

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