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Landeshauptstadt: Die DDR als Kulisse
Seit 1912 wird in Babelsberg Kino gemacht. Die PNN haben zum Potsdamer „Jahr des Films“ zwölf wichtige Babelsberg-Filme ausgewählt und erzählen ihre Geschichten: Meilensteine auf dem Weg von der Wiege des deutschen Films zum Hollywood der Republik. Heute Teil 10: Sonnenallee
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Eigentlich hätte ein Liebesbrief in die Todeszone flattern sollen. Dorthin, wo Stacheldraht und Grenzer mit Hunden den laut DDR-Jargon „antifaschistischen Schutzwall“ bewachen. Die Szene sollte komische und tragische Folgen haben, schwebte Regisseur Leander Haußmann vor. Doch aus seiner Anfangsidee für die Komödie „Sonnenallee“ wurde nichts. Denn während des ab 1998 gedrehten Großprojekts entschied sich der Filmemacher, wie er später sagte, als „emotionalen Bezugspunkt“ lieber die Entwicklung einer Jugendgruppe nachzuzeichnen. Der Erfolg seines Debüt-Streifens gab dem damals gerade 40 Jahre alten Haußmann Recht – „Sonnenallee“ sahen mehr als 2,6 Millionen Kinozuschauer und 6,5 Millionen Menschen, als der Film 2002 bei Sat1 erstmals im Fernsehen gezeigt wurde.
Doch ein Selbstläufer war der Streifen nicht. Vielmehr leisteten sich die Studios Babelsberg mit dem Projekt ein beachtliches Risiko. Rückblick: Dem Filmbetrieb in Babelsberg ging es zu dieser Zeit nicht besonders gut. Nach der Privatisierung durch die Treuhand und dem Verkauf der früheren Defa-Studios 1992 an den französischen Konzern Compagnie Générale des Eaux (später: Vivendi Universal) schlingerten die Studios, die Lage war trotz Hunderten Millionen Euro Investitionen in das Gelände wirtschaftlich schwierig. Selbst von Insolvenz war ab und an die Rede. Die großen Aufträge fehlten.
Zugleich aber geisterte schon länger der Wunsch durch die Studios, ein festes Kulissenset zu bauen, um gerade historischen Stoffen den passenden Rahmen zu geben, erzählt Michael Düwel, der seit 1995 die Filmsets in Babelsberg mitgestaltet und seit elf Jahren Chef der für die Bilderwelten vor der Kamera zuständigen Tochterfirma der Studio Babelsberg AG ist. Doch die Träume von einer Großkulisse – lange Zeit blieben sie Illusionen. Erst mit der Romanadaptation „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ des Schriftstellers und Drehbuchautors Thomas Brussig fand sich das lang ersehnte Projekt, das zu den Kulissen-Plänen passte. Das Unternehmen „Sonnenallee“ war selbst in einer Notlage, denn eine typische DDR-Straße mit angeschlossenem Grenzübergang war in Berlin nicht mehr zu finden. Die deswegen zwischen Stahnsdorfer Straße und Marlene-Dietrich-Ring gebaute täuschend echte Stadtlandschaft kostete anderthalb Millionen Euro – bis heute wurden in das Außenset „Berliner Straße“, wie es eigentlich heißt, weitere 4,5 Millionen investiert.
Nicht nur das viele Geld barg Risiken. Düwel erinnert sich noch heute an den anstrengenden Aufbau der „Sonnenallee“, weil die gesamte Konstruktion wegen des „kleinen Zeitfensters“, das Leander Haußmann zum Drehen hatte, in nur knapp zwei Monaten aufgebaut werden musste. „Da haben wir die Ohren anlegen müssen.“ Als Platz hatte sich das Studio ein Areal ausgesucht, auf dem früher die Kostümstudios und die Kunststoffwerkstatt der Defa standen. „Als wir begonnen haben, waren dort nur ein paar Schutthaufen und viel Unkraut“, sagt Düwel.
Seiner Erinnerung nach schufteten bis zu 90 Kollegen auf der Großbaustelle, um die bis zu neun Meter tief im Boden verankerten Stahlkonstruktionen hinter den bis zu 14 Meter hohen Hausmodellen aus Holz und Pappe hochzuziehen. Auf rund 7000 Quadratmetern entstand eine Straße mit 250 Metern Bordsteinkante samt Gemüseladen, einem gelben Postkiosk und einer Sero-Sammelstelle für Papier, einem Spielplatz sowie der Berliner Mauer als Abschluss.
Und dann war sie irgendwann fertig - die „erste Mauerkomödie über eine wilde Zeit, über Liebe, berauschende Mittel, Pop und Rock“, wie es die Fernsehwerbung versprach. Es ist ein Film voller Details aus dem Leben in der DDR, seien es Dederon-Kittelschürzen, Stechapfel-Cocktails als Partydroge oder Werbebanner für „Plaste und Elaste“. Erzählt wird dabei die Geschichte einer Gruppe von Jugendlichen, die in der „Sonnenallee“ an der Grenze zu West-Berlin wohnen, sich verbotene West-Musik anhören und Mädchen im Kopf haben. Politik ist dabei ziemlich egal. „Es war einmal ein Land, ich habe dort gelebt. Und wenn mich jemand fragt, wie es war: Es war die schönste Zeit meines Lebens, denn ich war jung und verliebt“, erklärt die 17-jährige Hauptfigur Michael Ehrenreich in der letzten Einstellung des Films. Doch als die „Sonnenallee“ ihre Premiere feierte – am 7. Oktober 1999, es wäre der 50. Geburtstag der DDR gewesen - verrissen die Feuilletonisten der Republik den Streifen. Der renommierte Film- Dienst sah „Geschichtsrecycling im Zeitalter der Event-Kultur“, viele Gags zielten „auf billige Schadensfreude.“ Die Frankfurter Allgemeine Zeitung konstatierte eine „atemlose“ Aneinanderreihung von Skurrilitäten. In der Wochenzeitung Die Zeit ätzte Christiane Peitz: „Der Osten als Puppenstube: verstellter Horizont, vernagelter Blick.“
Die Hilfsorganisation für Opfer politischer Gewalt „Help“ erstattete sogar eine - folgenlose - Strafanzeige gegen Regisseur Haußmann, weil die Beleidigung von Angehörigen einer Gruppe, die unter einer Willkürherrschaft verfolgt wurde, unter Strafe stehe. Denn die „Sonnenallee“ beleidige ehemalige DDR-Bürger unter anderem deswegen, weil am Ende eine Gruppe junger Leute tanzt, und zwar „vor der Mordmauer - aber nicht etwa nach dem Fall der Mauer, sondern zu Zeiten, als diese Mauer blutige Alltagsrealität war“, so Help damals. Dazu lasse Haußmann einen niedergeschossenen Flüchtling weinen, „aber nicht wegen des Mordversuchs, nicht wegen der Angst vor der bevorstehenden Stasi-Haft, sondern weil Kugeln auch seine Rolling-Stones-Schallplatten durchlöchert haben.“ Haußmann und Drehbuchautor Thomas Brussig wiesen den Vorwurf zurück, die „Sonnenallee“ verharmlose die DDR. „Die Beleidigung liegt außerhalb des Films. Sie besteht darin, dass sich kaum jemand für die Opfer politischer Gewalt in der DDR interessiert, sie besteht darin, dass es keine Reue gab und gibt, sondern nur allgemeines Schulterzucken von Menschen, die plötzlich keine Täter mehr gewesen sein wollen“, schrieb Brussig in einem offenen Brief an den Help-Verein.
Derlei Auseinandersetzungen hielten das Publikum nicht davon ab, den Film zum Kassenschlager zu machen – obwohl Haußmann zunächst für sein Projekt nur schwer Geldgeber fand, weil die DDR angeblich „out“ sei. Nach „Sonnenallee“ war das Gegenteil der Fall, sogenannte „Ostalgie“-Shows boomten im Fernsehen. Das war dann – vier Jahre nach „Sonnenallee“ - selbst Leander Haußmann zu viel. Diese Shows seien „doof“ und reduzierten das Bild der DDR auf „niedliche, peinliche Anekdoten“, erklärte er in einem Interview. Doch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten seien die Menschen eben gerne bereit „zu vergessen, dass wir stinkende Autos fuhren, in die beschissenste Armee der Welt mussten, um uns von Idioten quälen zu lassen“, so Haußmann. Und weiter: „Dabei hat uns die Diktatur einen wichtigen Teil unseres Lebens gestohlen.“
Jenseits dessen glich die „Sonnenallee“ für Studio Babelsberg einem Befreiungsschlag. „Nach langer Durststrecke markierte das eine Art Neuanfang“, sagt Kulissenbauer Düwel heute. In der Tat mehrten sich danach die Produktionen in der Filmschmiede. Es folgte die Erweiterung der „Berliner Straße“-Kulisse für den 2003 oscarprämierten Film „Der Pianist“ von Roman Polanski. „Diese Freiluft-Kulisse ist die größte ihrer Art in Deutschland“, sagt Düwel. Der Vorteil solcher Konstruktionen für Regisseure sei es, dass sich alle Schwierigkeiten vermeiden lassen, die bei Dreharbeiten in realen Innenstädten wegen Anwohnern oder Straßensperrungen fast zwangsläufig entstehen. Das sorgt für Aufträge – auch weil sich die 26 Fassaden an der Stahlkonstruktion austauschen lassen und so die Illusion einer Straße für ganz verschiedene Streifen wie „Musik war sein Leben“ von Kevin Spacey, „Inglourios Basterds“ von Quentin Tarantino oder zuletzt die Buchverfilmung „Russendisko“ von Oliver Ziegenbalg verwendet werden kann. Dutzende Mitarbeiter befehligt Düwel heute, wenn es um ein neues Projekt in Sachen Kulissenbau geht und die Fassaden einen frischen Anstrich für möglichst authentisches altes Aussehen erhalten müssen.
Nur die Szene eines flatternden Liebesbriefs in den Todesstreifen der Mauer – die Bilder dieser Idee hat die Welt noch nicht gesehen. Zumindest in der Berliner Straße kann sie wohl auch nicht mehr gedreht werden. Wie Düwel sagt, muss die Kulisse 2013 aus baurechtlichen Gründen, aber auch weil der Pachtvertrag ausläuft, aufgegeben werden - ob sie überhaupt umzieht oder gleich abgerissen wird, sei völlig unklar.
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