Einem höchst aktuellen Thema haben sich die Potsdamer Zeithistoriker angenommen: Der Ganztagsschule. Die Schulform, die fast in allen europäischen Ländern heute der Normalfall ist, trifft man in Deutschland nach wie vor selten an. Nicht mehr als fünf Prozent aller Kinder im Grundschulalter besuchen derzeit eine Ganztagsschule, weitere fünf Prozent einen Hort. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleibt daher in Deutschland ein Problemfeld. Angesichts der demographischen Entwicklung, die mit einer niedrigen Geburtenrate einhergeht, wird nun allerdings das Thema Ganztagsschule wieder aktuell; Auch die Politik hat die Thematik entdeckt. Im Vergleich zu Dänemark, Frankreich und Schweden bewegt sich bei uns allerdings noch wenig. „Die Millionen, die die rot-grüne Bundesregierung für den Ausbau der Ganztagsschulen bereitgestellt hatte, wurden und werden von den Ländern nur in geringem Maße abgerufen“, stellen die Historiker zum Anfang ihrer Forschungsarbeit fest.
Das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) hat nun zusammen mit der TU Berlin von der Volkswagen Stiftung die Förderung eines Forschungsprojektes bewilligt bekommen, das die Ganztagsschule im historischen Vergleich betrachtet. „Zwischen Ideologie und Ökonomie: Das Politikum der Ganztagsschule im deutsch-deutschen Vergleich (1945- 1989)“ ist der Titel der Studie, die für drei Jahre unterstützt wird. Das Projekt wird von Prof. Karen Hagemann (TU Berlin) und Prof. Konrad Jarausch (ZZF) geleitet sowie von der Historikerin Dr. Monika Mattes (ZZF) bearbeitet.
„Die geplante Langzeitanalyse bietet die Chance zu verstehen, welche politischen und kulturellen Faktoren in der Bundesrepublik den Ausbau des Ganztagsschulangebots bislang blockierten“, so die Wissenschaftler. Von dem Vergleich BRD-DDR erhoffen sie sich, die aktuelle bildungspolitische Diskussion zu vertiefen.
Mit der BRD und DDR standen sich zwischen 1949 und 1989 zwei Staaten gegenüber, die trotz gleicher Wurzeln gegensätzliche Pfade im Bildungs-, Erziehungs- und Sozialsystem einschlugen. Während man in der Bundesrepublik an das Modell der Weimarer Republik anknüpfte, das die Schulbildung als Staatsaufgabe und die Kindererziehung als Elternpflicht definierte, beschritt die DDR einen neuen Weg, der Kindererziehung offiziell zur Staatsaufgabe machte. „Im Westen wie im Osten Europas waren beide Staaten mit ihrer jeweiligen Ausgestaltung der Zeitstruktur des öffentlichen Bildungs- und Erziehungssystems einzigartig“, so die Historiker. In keinem anderen Land Westeuropas – außer Österreich – sei die Halbtagsschule wie in der BRD das dominante Modell geblieben. Die DDR hingegen habe einen stärkeren Ausbau des ganztägigen Bildungs- und Betreuungsangebotes betrieben als jedes andere Land im ehemaligen Ostblock – womit eine hohe Erwerbsbeteiligung der Mütter im Osten korrespondierte.
Das Projekt untersucht nun Ursachen der weitreichenden Unterschiede, fragt aber auch nach Gemeinsamkeiten. Erste Ergebnisse der Studie sollen auf einem Symposium in diesem Jahr in Potsdam präsentiert werden, eine Buchpublikation ist geplant. Jan Kixmüller
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