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Lothar Aust erzählte als Zeitzeuge vom 17. Juni. Aust saß 1961 nach versuchter Flucht im Potsdamer Stasiknast.

© Andreas Klaer

Landeshauptstadt: „Echte Friedhofsruhe“

Zeitzeuge Lothar Aust erzählte vom 17. Juni 1953

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Der Aufstand fand vor den Toren seiner Schule statt, schließlich waren es nur zwei Querstraßen zur Stalinallee. Dass dieser Junitag 1953 für etliche DDR-Bürger blutig enden sollte, war für die Elftklässler, zu denen Lothar Aust damals gehörte, zunächst nicht klar. „Unser Lehrer sagte: ,Wir gehen mit den Bauarbeitern diskutieren’“, erzählte er gestern den Schülern in der Gedenkstätte Lindenstraße. 17 Jahre war Aust 1953, nur ein Jahr älter als die Zehntklässler vom Lise-Meitner-Gymnasium in Falkensee, die gestern nach Potsdam kamen.

Zur Diskussion mit den Bauarbeitern ist Aust nicht gegangen – stattdessen erkundete er die Stadt mit dem Rad und sah irritierende Szenen: Menschenmassen auf dem Alexanderplatz, brennende Holzhäuschen an der Oberbaumbrücke, die damals Ost- von West-Berlin trennte: „Da kam es zu Handgemengen, Polizisten wurden ins Wasser geschmissen“, erinnert sich der promovierte Chemiker, der heute in Rehbrücke lebt.

Wie viele Tote es damals gegeben hat, ist bis heute nicht geklärt: Nach Angaben der Vereinigung 17. Juni e.V. sprachen westliche Medien von mehr als 5000 Opfern unter Demonstranten, Parteifunktionären und Soldaten, während die DDR offiziell 19 tote Demonstranten, zwei tote Unbeteiligte und vier tote Volkspolizisten beklagte. Auch in Potsdam sind laut Recherchen des Vereins 17. Juni zwei Tote aktenkundig: Ein unbekannter Zivilist und ein Volkspolizist. Mehr als 500 Aufständische landeten im Stasi-Knast in der Lindenstraße, berichtet Gedenkstättenlehrerin Catrin Eich.

Am Mittag des 17. Juni rief die sowjetische Militärkommandantur den Ausnahmezustand aus, der erst Mitte Juli aufgehoben wurde. Der galt in 167 Stadt- und Landkreisen der DDR. „Alle größeren Kreuzungen in Berlin waren von sowjetischen Landtruppen besetzt“, sagt Lothar Aust. Nachts herrschte Ausgangssperre. Ein Freund sei festgehalten worden, weil er einen Stadtplan mit roten Kringeln hatte: „Man dachte, er kundschaftet Militärposten aus“, erklärt Aust. Der Freund hatte sich Kino-Adressen markiert.

Schon am nächsten Tag begannen an der Schule die „Märchenstunden“, wie Aust sagt: Lehrer sprachen plötzlich von „Jugendlichen aus Westberlin“, die sich „verkleidet“ unter die Bauarbeiter der Stalinallee gemischt haben sollen, um sie „aufzuwiegeln“. Diskussionen habe es danach nicht mehr gegeben: „Es herrschte eine echte Friedhofsruhe.“ Jana Haase

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