Homepage: „Ein grundsätzlicher Schock“
MMZ-Historiker Olaf Glöckner über Antisemitismus in der EU, die Lage in Deutschland und Aufgaben der Politik
Stand:
Herr Glöckner, die EU-Studie, an der Sie mitgewirkt haben, spricht von einem deutlichen Anstieg des Antisemitismus in Europa. Ein überraschendes Ergebnis?
In gewisser Weise schon, insbesondere auf der generellen EU-Ebene. Wenn rund zwei Drittel der befragten 6000 Juden den gegenwärtigen Antisemitismus als ein gravierendes gesellschaftliches Problem einschätzen, und sogar drei Viertel eine deutliche Zunahme an Antisemitismus sehen, dann finde ich das schon überraschend. Das heißt, dass wir in der EU ein Problem haben. Und dass es zumindest in neun hoch entwickelten europäischen Staaten derart starke antijüdische Anfeindungen gibt, das ist schon ein grundsätzlicher Schock.
Wie sieht die Situation in Deutschland aus?
Deutschland liegt insgesamt etwas unter dem EU-Durchschnitt. 50 Prozent der hier befragten Juden empfanden Antisemitismus als gravierendes gesellschaftliches Problem, 68 Prozent sahen ihn in den letzten fünf Jahren stärker werden. Es gibt umgekehrt Länder, die weit über dem Durchschnitt liegen, beispielsweise Ungarn.
Und die anderen Länder?
Auch Belgien und Frankreich gehören derzeit zu den Spitzenreitern bei generellen Anfeindungen antisemitischer Art. In anderen Ländern scheint die Atmosphäre weniger vergiftet, beispielsweise in Großbritannien und Italien.
Was wollten die Sozialwissenschaftler mit der Studie konkret herausfinden?
Zusammen mit den Kollegen vom „Institute for Jewish Policy Research“ in London, das die Studie im Auftrag der EU-Agentur für Grundrechte koordinierte, haben wir uns rasch auf drei wesentliche Fragekomplexe geeinigt. Zum einen wurden Jüdinnen und Juden nach ihren persönlichen Erfahrungen mit Antisemitismus befragt – zum Beispiel physische Attacken, Beleidigungen, Gewalt gegen Sachwerte. Es wurde außerdem abgefragt, was ihre jüdischen Verwandten und Freunde in dieser Hinsicht erleben, und ob und wie sie Antisemitismus im öffentlichen Raum wahrnehmen – beispielsweise in Äußerungen von Politikern oder in den Medien. Hierbei hatte Deutschland erfreulicherweise eher geringe Werte. Der dritte Fragekomplex zielte darauf, was sich für persönliche Konsequenzen ergeben, wenn der Antisemitismus immer stärker wird.
Welche Konsequenzen wurden für Deutschland genannt?
Laut Umfrage gibt es auch in Deutschland Frauen und Männer, die ihr Äußeres verändert haben, um als Juden weniger erkennbar und angreifbar zu sein. Das ist natürlich ein heikler Punkt, insbesondere für religiöse und traditionsbewusste Juden. Trage ich eine Kippa auf der Straße, oder lasse ich es lieber sein? Entferne ich die Mesusa, eine Schriftkapsel am Türpfosten, von meiner Tür im Hausflur? Wie gefährlich ist es, wenn ich im Bus oder in der S-Bahn anhand eines jüdischen Symboles erkannt werde? Einige vermeiden dies nun. Und sogar rund 17 Prozent der Befragten meiden heute häufig oder zeitweise jüdische Veranstaltungsorte – aus purer Angst, auf dem Weg dorthin oder am Ort selbst angegriffen zu werden. Das finde ich besonders erschreckend, weil die west- und mitteleuropäischen Juden als eigentlich sehr gut in ihr Umfeld integriert gelten.
Ein Ergebnis der Studie ist, dass die antisemitische Szene in Deutschland bisher nur in relativ wenigen Fällen offene Gewalt auslebt. Klingt doch erst einmal ganz gut.
Das ist richtig, aber Hassreden, verbale Attacken und Aggression gegen Sachwerte können natürlich leicht umschlagen, auch in physische Übergriffe. Bei verbalen Attacken und Bedrohungen mussten wir zudem feststellen, dass die identifizierten Täter sich inzwischen aus ganz unterschiedlichen Gruppen zusammensetzen. Zu jeweils 20 bis 25 Prozent wurden Rechtsextreme, radikale Islamisten und Linksextreme genannt.
25 Prozent der verbalen Attacken aus linksextremen Kreisen, das ist erstaunlich.
Das hat mich, ehrlich gesagt, weniger überrascht. Teile der Linken scheinen sich heute in fast schon exzessiver Weise mit dem Nahostkonflikt zu beschäftigen, während andere Konflikte in der Region – wie der Bürgerkrieg in Syrien – kaum interessieren. Da kocht zweifellos eine Menge an antizionistischem Antisemitismus hoch, und das äußert sich teils in extremer Weise, unter anderem in Vergleichen zwischen Zionismus und Nationalsozialismus.
Es werden Pauschalurteile getroffen?
Ja, wie ganz selbstverständlich, und das von allen genannten Gruppen, ebenso aber von Teilen der gesellschaftlichen Mitte. Auch in Deutschland werden Juden beharrlich darauf angesprochen, wie unverantwortlich und militant sie sich im Nahostkonflikt verhalten würden. Ein absurdes, aber beliebtes Konstrukt. 40 Prozent der in Deutschland befragten Juden haben es schon öffentlich erlebt, dass Israel und Judentum einfach gleichgesetzt werden.
Die PNN haben zur Eröffnung der Jüdischen Theologie an der Uni Potsdam eine Leserzuschrift erhalten. Sinngemäß heißt es darin, warum nun gerade das arme ostdeutsche Bundesland Brandenburg die Rabbiner-Ausbildung für Mitteleuropa bezahlen soll. Das könne doch der Jüdische Weltkongress finanzieren. Ist das eine Form von Antisemitismus?
Ob es dem Verfasser bewusst ist oder nicht: Er spielt mit dem alten Stereotyp der reichen Juden, die globalen Einfluss besitzen. Die Frage, warum in Deutschland überhaupt erst wieder bei Null angefangen werden musste, die Tradition der jüdischen Bildung – einschließlich der akademischen – neu aufzubauen, stellt er sich gar nicht erst. Ganz nach dem Motto: Sollen die Juden den Wiederaufbau ihrer Einrichtungen doch selbst bezahlen, nicht wir armen Deutschen. Natürlich liegt da der sekundäre Antisemitismus in der Luft.
Die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident sprachen im Zusammenhang mit der Jüdischen Theologie in Potsdam von einer Renaissance neuen jüdischen Lebens in Deutschland. Ist diese Entwicklung durch den neuen Antisemitismus nicht in Gefahr?
Eine schwierige Frage, die man pauschal wohl nicht beantworten kann. Es gibt unterschiedliche Trends, und im akademischen Bereich sind sie jetzt sehr positiv. Die Eröffnung des Institutes für Jüdische Theologie in Potsdam hat gezeigt, wie weit der christlich-jüdische Dialog hierzulande fortgeschritten ist. Rabbiner Henry Brandt hat das für die jüdische Seite betont, und die ehemalige EKD-Vorsitzende Margot Käßmann für die christliche. Käßmann hat in ihrer Eröffnungsrede sogar den Antijudaismus des Kirchengründers Martin Luther und seine verheerenden Wirkungen auf spätere Generationen angeprangert. Heute geht es im christlich-jüdischen Dialog um Aufarbeitung, um gegenseitige Lernprozesse. Ob das die Basis erreicht, ist eine andere Frage. Aber christliche Judenfeindschaft scheint im Rückgang.
Welche Empfehlung geht jetzt an die Politik?
Das Phänomen des neuen Antisemitismus in Europa muss engmaschiger und genauer beobachtet werden, und das sollte die Politik unterstützen, auch ein Deutschland. Einige europäische Länder geben regelmäßig eigene Antisemitismus-Berichte heraus, und damit hat man den Überblick und kann konkreter reagieren. Beim Bundesinnenministerium ist 2011 ein solcher Bericht erstmals auch für Deutschland erschienen, ausgearbeitet von einer unabhängigen Experten-Kommission. Das war ein Anfang. Was wir brauchen, ist aber ein regelmäßiger, umfassender Antisemitismus-Report, im Abstand von zwei oder drei Jahren. Wichtig bleibt zudem, dass die Politik den Juden in Deutschland immer wieder versichert: Es gibt Probleme, aber wir stehen hinter euch.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
Olaf Glöckner (48) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam. Er war als einziger Deutscher an der Erstellung der EU-Studie zum Antisemitismus beteiligt.
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