PNN-Film-Serie: Ein Muck erobert die Welt
Seit 1912 wird in Babelsberg Kino gemacht. Die PNN haben zum Potsdamer „Jahr des Films“ zwölf wichtige Babelsberg-Filme ausgewählt und erzählen ihre Geschichten: Meilensteine auf dem Weg von der Wiege des deutschen Films zum Hollywood der Republik. Heute Teil 7: Die Geschichte vom kleinen Muck
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Bertolt Brecht ist schuld. Dem großen deutschen Literaten verdankt die Defa ihren erfolgreichsten Film: Ein Märchen. Es ist keine Brecht-Verfilmung. Der Dramatiker verweigerte 1953 der DDR-Filmproduktion die Überlassung seines Stoffs „Mutter Courage und ihre Kinder“. Doch das Produktionsgeld war bereits fest eingeplant – schließlich war man in der DDR. Ein neues Filmprojekt musste her. Dieser Lückenfüller sollte zum meistgesehenen Film der Defa werden: „Die Geschichte vom kleinen Muck“.
Noch heute, 58 Jahre nach dem Dreh, flitzen kleine Kinder wie einst der kleine Muck um das Wasserbassin aus dem Film, das neben dem Sultansthron zur Kulisse des Filmparks Babelsberg gehört. Damals, 1953, war es also Brechts Boykott, der die Defa-Verantwortlichen vor die Frage stellte, wie man das große Atelier und die Freiflächen in Babelsberg, die für den Brecht-Film vorgesehen waren, nun sinnvoll nutzen sollte. Wolfgang Staudte, Regie-Superstar zur damaligen Zeit, nahm sich statt Brecht also Hauff vor. Ziemlich schnell wurde auch den Defa-Verantwortlichen um Produzent Heinz Herrmann klar, dass Staudte, der 1946 mit „Die Mörder sind unter uns“ den ersten Nachkriegsfilm in Babelsberg verantwortete, einen neuen Weg im Märchenfilm beschreiten würde. Nicht „kindertümelnd naiv“, wie es der Filmkritiker Michael Boldhaus ausdrückte, wollte Staudte die Geschichte um einen kleinen Jungen erzählen, der auf der Suche nach dem käuflichen Glück andere glücklich macht. Staudtes Muck hat philosophische Tiefe, erzählt allgemeingültig über wahre Freundschaft, ist mit zum Teil grotesker Komik gespickt – ohne allerdings jemals den Märchencharakter zu vernachlässigen.
Staudte lässt einen gealterten Muck, der von Kindern wegen seiner Kleinwüchsigkeit gehänselt wird, seine Geschichte erzählen: Ein kleiner Junge, Muck genannt, wird nach dem Tode seines Vaters von den bösen Verwandten aus dem Haus gejagt. Er zieht in die Wüste, um sein Glück zu suchen, und kommt zu einer wundersamen Alten. Hier gelangt er in den Besitz von rasenden Zauberpantoffeln und einem Stab, der vergrabene Schätze aufspürt. Muck glaubt, das Glück gefunden zu haben, und begibt sich in die nächste Stadt, um am Hofe des Sultans eine Stelle als Schnellläufer anzunehmen. Doch Mucks Karriere erregt den Neid der Höflinge, die ihn in ein Intrigenspiel verwickeln, um ihn aus dem Sultanspalast zu verjagen.
Ein ganzes Orientreich musste dafür in Babelsberg geschaffen werden. Vor allem die Kulissenbauer aus Babelsberg gaben alles, um aus dem Filmstudio eine arabische Märchenwelt zu basteln, durch die der kleine Muck reisen kann, um schließlich im Sultanspalast den großen Eselsohrenstreich zu spielen. Meterhohe, reich verzierte, orientalische Kulissen platzierten die Dekorateure ins Atelier und auf das Außengelände, nicht nur gestandene Filmemacher wie Urgestein Willy Schwabe sahen damit eine neue Qualität im Märchenfilm-Genre.
Vor allem auf den jungen Hauptdarsteller Thomas Schmidt machte die künstliche Filmwelt großen Eindruck. Als gerade mal Elfjähriger spielte er mit dem jungen Muck seine erste und im Nachhinein auch größte und wichtigste Rolle. Schmidt, der 2008 starb, erinnerte sich kurz vor seinem Tod, „dass ich in Drehpausen vor allem bei den Kulissenbauern war“. Zusammen mit den Dekorateuren und Handwerkern hämmerte er die letzten Nägel in die bunten, fantasievollen Aufbauten, mit denen Regisseur Staudte neue Maßstäbe setzte für eine Kinder- und Märchenfilm-Ära bei der Defa.
Der Film ist im Progress-Verleih, die DVD bei Icestorm erschienen.
Für Thomas Schmidt waren die Dreharbeiten Spaß, erinnerte er sich. Als „Abenteuerspielplatz“ bezeichnete er die Babelsberger Studios. Auch wenn er aus einer Filmfamilie stammte, die Mutter Charlotte Ulbrich war Schauspielerin, der Vater Peter Podehl schrieb sogar für den kleinen Muck das Drehbuch – Schmidt war keineswegs erste Wahl bei der Besetzung des kleinen Mucks. Bei der Defa suchte man erst nach einem kleinen Mann. Auch Frauen, darunter auch die Mutter von Thomas Schmidt, waren als Besetzung des jungen Muck im Gespräch. Erst nach 40 erfolglosen Probeaufnahmen mit erfahrenen Schauspielern wurde Staudte auf den Teenager Schmidt aufmerksam, der seine Mutter am Tag der Probeaufnahmen in die Babelsberger Studios begleitet hatte. Mit einem Turban auf dem Kopf saß Schmidt wartend auf seine Mutter, als ihn Wolfgang Staudte entdeckte. Und seinen Muck gefunden hatte, genau an Schmidts elften Geburtstag.
Das Wagnis, einen unerfahrenen Jungen mit der Hauptrolle zu betrauen, ging wohl auch deshalb auf, weil Staudte echtes Geschick im Umgang mit Kindern bewies. „Ich glaube, er hat mich nicht anders geführt als die anderen Schauspieler, aber alles, was er von mir wollte, war für mich nachvollziehbar“, erinnerte sich Thomas Schmidt später in einem Gespräch über seine größte Rolle. Unter Staudtes Regie brillierte selbst der bislang filmunerfahrene Junge, noch heute wird seine schauspielerische Leistung in Kritiken zum kleinen Muck besonders erwähnt. Trotzdem er sich anschließend vom Film abwand und Medizin-Professor wurde, erlangte er durch die Rolle des kleinen Muck DDR-weit Berühmtheit. Sogar als Werbefigur wurde Schmidt genutzt, der VEB Mitteldeutsches Süßwarenwerk Delitzsch verzierte eine Mokka-Bonbon-Packung mit seinem Muck- Antlitz – eine Ehre, die wahrscheinlich einzigartig gewesen ist in der DDR-Filmgeschichte.
Die Dreharbeiten in Babelsberg müssen turbulent gewesen sein, nicht nur wegen der vielen Kinder, die neben Schmidt für den Film gebraucht wurden. Noch im Winter 1953, am 16. Februar, fiel die erste Klappe für Staudtes Muck. Um ein echtes Orient-Bild zu zaubern, organisierten die Defa-Filmleute Affen, Elefanten und Löwen, die aus dem damaligen Staatszirkus Busch ans Film-Set gebracht wurden. Der große Aufwand bei Kulissen, Kostümen und Requisiten forderte Tribut bei der Produktionszeit. Spielleiter Wolfgang Staudte benötigte fünfeinhalb Monate, um den Film fertigzustellen. Doch auch nach dem Dreh blieb der Aufwand – gerade für einen Märchenfilm – hoch. Staudtes Werk beeindruckt auch heute noch mit einer Vielzahl von Spezialeffekten, wie beispielsweise die wachsenden Eselsohren, die nach dem Genuss verzauberter Feigen entstehen. Eindrucksvoll auch die Bilder, die vom bekannten Kameramann Robert Baberske verantwortet wurden. Sie sorgen für einen bleibenden Wert dieses Märchenfilms. Gemeinsam schufen Baberske und Staudte Anfang der 50er Jahre neue Maßstäbe im Märchengenre, auf die in den Folgejahrzehnten viele Regisseure aufbauten und so die Märchen-Verfilmungen der Defa zu echten Export-Schlagern für die DDR-Filmkunst machten. Allerdings: Kein anderer Märchenfilm, keine andere Defa-Produktion fand mehr Zuschauer als „Die Geschichte vom kleinen Muck“. In 60 Länder wurde der Streifen verkauft, selbst in der BRD wurde der Film – mit zwei Jahren Verspätung – in den Kinos gezeigt. Trotz eines sonst gültigen Aufführungsverbotes für Defa-Filme. Es heißt, das Märchen soll der Lieblingsfilm des vietnamesischen Revolutionärs und Präsidenten Ho Chi Minh gewesen sein. Auf dem Internationalen Filmfestival in Edinburgh und den Internationalen Filmfestspielen in Montevideo 1956 erhielt das Märchen Auszeichnungen. Hauptdarsteller Wolfgang Schmidt indes erntete erst nach der Wende den Kult-Ruhm seiner größten Rolle. Seine Eltern waren mit ihm 1955 in die BRD geflüchtet. „Ich hörte immer Ausrufe des Erstaunens, wenn ich mit Menschen von ,Drüben‘ auf den Film zu sprechen kam und erzählte, dass ich den kleinen Muck gespielt habe“, sagte Schmidt 2003 zum 50-jährigen Jubiläum des Films. 2008 starb der Muck-Darsteller. Sein Spiel als Muck indes zog bis heute weit mehr als elf Millionen Besucher in die Filmtheater – ein Defa-Rekord für die Ewigkeit.
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