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Ruinös. Die Gutenbergstraße in der Potsdamer Innenstadt Ende der 1980er. Der Verfall konnte nur mühsam gestoppt werden, der Aufbruch der Stadt dauerte Jahre.

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Von Sabine Schicketanz: Ein Spätzünder

Die einstige Heimat des Jammer-Ossis auf der Überholspur: Potsdam im Jahr 20 nach der deutschen Einheit

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Da sitzen sie im Rathaus, das schwarz gefärbte Haar glänzend, die derben Stiefel geputzt. In einer Lippe glitzert ein silberner Piercing-Schmuck. Die drei jungen Potsdamer wollen wissen, wie es mit ihrem Kulturzentrum weiter geht. Das „Archiv“ hat jahrelang autonom existiert, ein Treffpunkt der alternativen Szene. Jetzt droht das Aus: Werden Brandschutzmängel nicht behoben, muss es schließen. Die Sanierung des verfallenen Hauses kostet. Mehr, als die jungen Leute haben. Umziehen können sie nicht. Es gibt kaum mehr leere Häuser in Potsdam, die dazu einladen würden, sie in Besitz zu nehmen. Was noch nicht saniert ist, wartet nur auf die Gerüste.

Potsdam im Jahr 20 nach der deutschen Einheit: Eine Stadt auf der Überholspur. Der Osten entvölkert sich vielerorts, doch hier wächst die Zahl der Einwohner schneller, als Kindertagesstätten gebaut werden können. Allein 30 wurden seit 2002 neu eröffnet. 152 000 Menschen leben in Potsdam, gut 40 000 sind aus Berlin und den alten Bundesländern zugezogen. Schon Jahre wohnen hier Prominente wie TV-Moderator Günther Jauch, der 1995 mit seiner Familie aus Zehlendorf übersiedelte, oder Modeschöpfer Wolfgang Joop, der aus Hamburg in seine Geburtsstadt zurückkehrte. Mit Neu-Bürgern wie FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher, Noch-„Cicero“-Chefredakteur Wolfram Weimer und „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann wurde „die schöne, kleine Schwester Berlins“ das Lieblingskind führender deutscher Medienmacher. Für den „Spiegel“ ist Potsdam die „heimliche Hauptstadt der Republik“, Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner schenkte seiner Wahlheimat zum Mauerfall-Jubiläum ein Privatmuseum direkt an der Glienicker Brücke, fast genau da, wo einst die Mauer verlief. Die Eröffnungsrede in dem soeben restaurierten, denkmalgeschützten Persius-Bau Villa Schöningen hat – das wundert hier niemanden mehr – Bundeskanzlerin Angela Merkel gehalten.

Dabei ist Potsdam ein Spätzünder. Die ehemalige preußische Garnisonstadt dümpelte nach dem Fall der Mauer jahrelang vor sich hin. Der Verfall der barocken Innenstadt, des einmaligen Holländischen Viertels, konnte nur mühsam eingedämmt werden. Potsdam bot weiter ein ruinöses Bild – obwohl gerade die Sorge vor dem Verlust des historischen Erbes den Widerstand gegen das DDR-Regime genährt hatte. Im April 1988 hatte sich unter dem Dach des DDR-Kulturbundes die Arbeitsgemeinschaft für Umweltschutz und Stadtgestaltung (Argus) gebildet – Gründungsmitglied war der heutige brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck. Argus kritisierte offensiv die Baupolitik der DDR, machte auf Umweltsünden aufmerksam. Im „roten“ Potsdam, der SED-Bezirksstadt mit Parteikaderschmieden wie der Hochschule für Staat und Recht nicht eben Bürgerrechtler-Territorium, ein politisches Wagnis. Der erste Erfolg vor dem Mauerfall: Am 1. November 1989 erwirkte Argus einen Abrissstop für die barocke Innenstadt.

Was damals niemand ahnte: Der Aufbruch Potsdams sollte ungleich schwieriger werden. Ungeklärte Eigentumsverhältnisse, ein Monopoly, das Immobilienpreise in die Höhe trieb, im Rathaus zähe Bürokratie und eine überforderte Stadtführung, eine Landesregierung, die ihre Hauptstadt links liegen ließ – es war eine unheilige Mischung.

Als der „Spiegel“ 1996 beim Leipziger Institut für Marktforschung eine Studie in Auftrag gab, ging Potsdam daraus als „Jammerhauptstadt des Ostens“ hervor. Den Potsdamern ging es zwar im Ost-Vergleich überdurchschnittlich gut, doch sie waren gleichermaßen überdurchschnittlich unzufrieden. Noch 1997 ließ Oberbürgermeister Horst Gramlich, seit Mai 1990 im Amt, das „Potsdam-Center“ am Bahnhof bauen. Der Betonklotz rief die Unesco auf den Plan, sie drohte mit der roten Liste für gefährdetes Welterbe. Ein Jahr später zog im Rathaus eine andere Stimmung ein. Das schwächelnde Potsdam drohte an die PDS zu fallen, die Sozialdemokraten drängten ihren damaligen Umweltminister Matthias Platzeck, seine Heimatstadt zu regieren. Möge die Gesamtbilanz der Potsdamer Platzeck-Ära durchwachsen ausfallen – ihren Höhenflug begann die Stadt in dieser Zeit. Die Schlüsselprojekte: Bundesgartenschau, Theater-Neubau, Rückkehr des Kaufhauses in die Innenstadt.

Jetzt bringen Studien der Stadt regelmäßig Spitzenwerte ein. So ist Potsdam der familienfreundlichste Ort aller 439 Städte und Landkreise Deutschlands, fand Prognos 2007 im Auftrag der Bundesregierung heraus. Auf der mit brandenburgischem Humor „Broadway“ getauften Einkaufsstraße kann man das besichtigen: In der Fußgängerzone versperrt regelmäßig eine Kinderwagen-Armada den Weg, Eltern staunen über die Dichte der Luxus-Babykutschen. Das Einkommen ist hoch, die Arbeitslosenquote mit stabilen 8,1 Prozent fast fünf Prozent niedriger als der ostdeutsche Durchschnitt. An jeder Ecke finden sich Praxen für Naturheilkunde, Yoga-Studios, Therapeuten. Für einen Besuch auf dem Wochenend-Markt am Nauener Tor, wo sich samstags die Individualisten zum Feinkost-Einkauf treffen, druckte eine Lokalzeitung einen Ratgeber im Stile von „Wie angelt man sich einen Millionär?“

Nicht ganz falsch. Haben die Reichen, Schönen, Mächtigen doch das Potsdamer Gemisch aus barocker Gemütlichkeit, italienischer Eleganz und schnödem Ost-Retro für sich entdeckt. Milliardär Hasso Plattner spendete der Stadt die Fassade für das Stadtschloss, den Angelpunkt des Potsdamer Architektur-Gesamtkunstwerks, das bis Anfang 2013 als Landtag wieder aufgebaut wird. Das Tor zum Schlosshof, das Fortunaportal, bezahlte Günther Jauch. Plattner steckte zusätzlich Millionen in eine private IT-Universität. Andere investierten in Immobilien, sanierten wie Jauch historische Wohnhäuser in Größen.

Das Gedeihen hat ein Tempo erreicht, das manche und manches hinter sich lässt. Nirgendwo in Ostdeutschland sind Grundstücke und Häuser teurer, Mieten höher. Ganze Stadtteile sind neu entstanden, doch noch immer werden 10 000 neue Wohnungen gebraucht. Mangelwirtschaft anderer Art. Neue Kluften, die Potsdams Politik überbrücken muss. Anrainer sperren im Jahr 20 nach Mauerfall den ehemaligen Postenweg der DDR-Grenzer am Griebnitzsee. Er verläuft über ihr Eigentum. Am Heiligen See, wo die Prominenz wohnt, muss das Restaurant mit Kulturangebot aus der Villa Kellermann ausziehen. Nun ist dort kein Gebäude mehr öffentlich. Kunstmaler Alfred Schmidt, dessen Potsdamer Ansichten in Pastelltönen zur Stadt gehören wie Sanssouci, ist auch umgezogen. Sein ganzes Leben wohnte der 67-Jährige am Heiligen See – bis eines der letzten unsanierten Häuser einen Käufer fand. Sein ehemaliger Nachbar, Günther Jauch, kauft nach eigenem Bekunden keine Denkmäler mehr in der Stadt. Er finanziert jetzt die „Arche“, die im Plattenbaugebiet Drewitz Kindern ein Mittagessen und Betreuung bietet.

Und das „Archiv“, der marode Treffpunkt der alternativen Jugendszene? Für den Erhalt gingen hunderte Jugendliche auf die Straße. Jetzt zahlt der Eigentümer für den Brandschutz. Die Stadt Potsdam.

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