Ortstermin: 25 Jahre Deutsche Einheit: Geschichtsstunde mit Rinderzüchter Gysi
Was trennt Ost und West nach 25 Jahren deutscher Einheit? Diese Frage beantwortete ein launischer Gregor Gysi im Gespräch mit Frank Bösch vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung.
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Berlin/Potsdam - Am Ende blieb man sich treu. Wenn der Potsdamer Historiker Frank Bösch vom Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) mit dem Fraktionsvorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag Gregor Gysi darüber ins Gespräch kommt, was nach 25 Jahren Einheit Ost und West noch trennt, beziehungsweise immer schon getrennt hat, dann sind die Rollen klar verteilt. Gysi kommt eher aus dem Bauch heraus, holt die Zuhörer mit Charme und Humor ab, während Bösch das historische Gewissen gibt, den trocken kommentierenden Dozenten. Ost also emotional, West rational – da waren wir wieder in den alten Schubladen. Man traf sich am Montag im Berliner Haus der Leibniz-Gemeinschaft: auch dies eine Ost-West-Beziehung, war hier doch einst die Industrie- und Handelskammer der DDR untergebracht.
Gysi pflegt ostdeutschen Galgenhumor
Gysi war etwas launisch, irgendwie nicht wirklich locker. Wenige Wochen vor seinem Ausscheiden aus der Politik musste er der Moderatorin versichern, dass er emotional gut drauf sei. „Zumindest seitdem ich sie gesehen habe“, sagte Gysi dann zu ihr. Da war er wieder, so kennen wir ihn, als Charmeur und Polit-Rampensau, als unverbesserlichen Populisten, der immer eine Anekdote parat hat. Etwa die Sache mit seiner Ausbildung zum Rinderzüchter. „Das war natürlich Quark“, sagt der studierte Jurist zu dem mäßigen Erfolg der damaligen Zwangsmaßnahme. Aber es habe ihm später bei seiner politischen Karriere geholfen – er habe melken und mit Rindviechern umzugehen gelernt. Gysi pflegt ihn, diesen im Osten gern bemühten Humor, der oft auch ein Galgenhumor war. Und Gysi hat immer das letzte Wort. Zumindest fast immer.
Denn diesmal wird Bösch als historisches Gedächtnis quasi zum Faktencheck herangezogen. Er parliert jede Nachfrage der Moderation mit fundiertem Wissen, untermauert teilweise damit auch Gysis Einschätzungen. Doch die Wissenschaft hat immer auch ein „aber“ parat. Etwa beim Thema Bildungsexpanison des Ostens: Bösch zählt die Errungenschaften der DDR auf, so auch die Förderung der Frauen. Bereits in den 1950er-Jahren sei die DDR in der Bildung Vorreiter gewesen, was die BRD erst in den 70er-Jahren aufgeholt habe. „Trotzdem war die DDR aber sicherlich nicht gerechter“, hält der Historiker Gysi entgegen, der meint, dass nur in der DDR ein Arbeiterkind Arzt werden konnte. Bösch hat ganz andere Fakten: In den 70er-Jahren sei die Bildungsexpansion in der DDR gestoppt worden, hinzu kam, dass die politische Auswahl in der DDR alles andere als gerecht war. Auch besage eine neue These der Forschung, dass in den 80er-Jahren Kinder aus Arbeiterfamilien im Westen sogar größere Aufstiegschancen hatten als in der DDR.
Gysi blickt eher starr zurück, Bösch liefert historischen Hintergrund
Bösch schaut als Historiker schon von Berufs wegen zurück, wenn auch mit einem sehr gegenwärtigen Blick. Gysi aber sieht ein wenig zu starr zurück – etwa wenn es darum geht, dass man im Osten Zeitung anders gelesen habe oder den Ostdeutschen etwas fehle, wenn ihnen niemand mehr die Ausreise nach Kanada untersage. Hier spricht er von den Menschen, die längere Zeit in der DDR gelebt haben – die nachwachsenden Generationen dürfte das kaum noch betreffen.
Heute macht Gysi grundsätzlich einen Mangel an Chancengleichheit bei Kunst, Kultur und Bildung aus. Auch für Hartz-IV-Kinder müsse es möglich sein, ein klassisches Konzert zu besuchen – was bei Eintrittspreisen über 100 Euro schwierig sei. Dazu muss der Historiker Bösch keine Position formulieren, auch wenn er sie sicher gehabt hätte. Er tippt in der gebotenen Kürze vielmehr noch viele spannende deutsch-deutsche Aspekte an, etwa das noch weitgehend offene Forschungsfeld der verschwundenen Treuhand-Milliarden oder die interessante These vom Experimentierfeld Ostdeutschland, in dem neoliberale Reformen ausprobiert wurden, die wenig später auch den Westen erreichten. Bei der Frage des Rechtsextremismus waren sich Bösch und Gysi mit ihren Einschätzungen weitgehend einig, als eine im Westen angestoßene Bewegung, die im zuvor abgeschotteten Osten auf fruchtbaren Boden fiel.
Dem Westen fehlten positive Wende-Erlebnisse
Viel wäre noch zu besprechen gewesen, sehr viel, doch Gysi blickte nach einer guten Stunde unruhig zur Uhr. Der nächste Termin drängte. Unterm Strich blieb für ihn zu sagen, dass der Westen sich zu wenig für den Osten interessiert habe, und dass die ostdeutschen Eliten in die Einheit zu wenig miteinbezogen worden seien. Dem Westen hingegen hätte es an positiven Wende-Erlebnissen gefehlt. Bösch drehte die Medaille um, er hob hervor, dass auch der Westen nach 1990 bluten musste.
Frank Bösch (Hg.) Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, 2015, ISBN 978-3-525- 30083-1, 34,99Euro
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