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Homepage: In Deutschland fremd

Studie: Russisch-jüdische Einwanderer dominieren heute die jüdischen Gemeinden, fühlen sich aber hier nur wenig integriert

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Deutschland ist nach Israel und den USA zum drittwichtigsten Aufnahmeland für russische Juden geworden. Mittlerweile leben laut einer neuen Studie unter Federführung des Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrums (MMZ) hier an die 220 000 Juden, die Ende der 90er Jahre die ehemalige Sowjetunion verlassen haben. Nach Israel gingen bislang 1,1 Millionen Migranten, in die USA 350 000. Ungeachtet der Schatten, die der Holocaust nach wie vor über Deutschland wirft, ist hier in den vergangenen Jahren nach England und Frankreich die drittgrößte jüdische Gemeinde Europas entstanden. Mehr als 80 Prozent der Mitglieder der jüdischen Gemeinden Deutschlands sind heute russischsprachig. Von der Politik willkommen geheißen, vollzieht sich diese Entwicklung allerdings nicht ohne Konflikte und Reibungen.

Dass die zumeist kaum religiösen jüdischen Emigranten aus Russland die hiesigen, zuvor recht beschaulichen, jüdischen Gemeinden vor große Herausforderungen stellen, ist weithin bekannt. Doch dass Deutschland im Vergleich zu Israel und USA den neuen Bürgern arge Probleme bereitet, ist weniger bekannt. Die Studie des MMZ kommt nun zu dem Ergebnis, dass das Leben der russischen Juden in Deutschland von hoher Arbeitslosigkeit und mangelnder Integration geprägt ist. Während sich in allen drei Aufnahmeländern die russisch-jüdischen Migranten durch eine hohe berufliche Qualifikation auszeichnen – 70 Prozent sind Akademiker – ergibt sich bei der Arbeitslosigkeit ein erstaunliches Bild: In den USA sind demnach nur drei Prozent von ihnen ohne Arbeit, in Israel zehn Prozent, was dem Durchschnitt entspricht, in Deutschland hingegen liegt die Quote bei 40 Prozent. „Ein Hinweis darauf, dass einiges korrigiert werden muss“, wertet MMZ-Direktor Prof. Julius H. Schoeps, der an der Studie „Building a Diaspora“ beteiligt war.

Ein ebenso verschobenes Bild ergebe sich bei der Identifikation: In Israel und den USA würden sich rund 70 Prozent mit dem Aufnahmeland identifizieren, in Deutschland sind es den Ergebnissen nach gerade mal elf Prozent. Die Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass die Integration in den drei untersuchten Ländern sehr unterschiedlich verläuft. In Israel würden die Zuwanderer schnell Hebräisch lernen und sich als israelische Juden bezeichnen, so der Soziologe Eliezer Ben-Rafael. In den USA gebe es zwar Unterschiede zu den alteingesessenen Juden, dennoch identifizierten sich rund 70 Prozent mit den Vereinigten Staaten, so der emeritierte Professor der Universität von Tel Aviv. In Deutschland dagegen fühlten sie sich fremd, lernten nur ungenügend die deutsche Sprache und betrachteten sich selbst als russische Juden.

„Deutschland ist offensichtlich kein Einwanderungsland und hat große Probleme die Immigranten zu integrieren“, lautet die Einschätzung von MMZ-Direktor Schoeps. Für eine bessere Integration sei es nun wichtig, dass die Anerkennung der Hochschulabschlüsse aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion erleichtert werde, auch müssten sich die Universitäten stärker den zugewanderten Akademikern öffnen.

Zudem trage das unzureichende System der Sprachkurse zur mangelnden Integration bei, merkte Olaf Glöckner von der Fachhochschule Potsdam an, der ebenfalls an der Studie beteiligt war. „Nach nur sechs Monaten Sprachkurs dürfte man große Probleme haben, sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu bewerben“, so Glöckner. Ein anderes Problem liege in dem langwierigen Verfahren der Anerkennung der Staatsbürgerschaft. Glöckner nennt ein Beispiel: „Während wir in den ländlichen Gegenden Ostdeutschlands einen zunehmenden Ärztemangel haben, müssen die Mediziner unter den russisch-jüdischen Einwanderern sieben Jahre warten, bis sie die deutschen Staatsbürgerschaft erhalten und somit eine eigene Praxis eröffnen können.“ Schwierig sei für die Einwanderer auch, dass sie nach einem festgelegten Verteilungsschlüssel in Deutschland angesiedelt werden. Obwohl sie meist an das Leben in Großstädten gewöhnt seien, wohnten sie nicht selten auf dem Land.

Ausschließen wollte Glöckner allerdings nicht, dass die hohe Arbeitslosenrate unter russischen Juden auch etwas mit dem „sozialen Ruhekissen“ zu tun haben könnte, das Deutschland biete. In den USA etwa sind die Sozialleistungen so niedrig, dass man zum Arbeiten gezwungen sei. Positiv ist den Forschern aufgefallen, dass sich die Probleme der Einwanderer in der nachfolgenden Generation erübrigen: „Eine überdurchschnittlich hohe Anzahl der Kinder der russisch-jüdischen Einwanderer – rund 70 Prozent – nimmt ein Studium auf“, so Glöckner.

Ob die Differenz bei der Arbeitslosigeit ihre Ursache darin habe, dass unterschiedliche Gruppen in die jeweiligen Länder gehen, hinterfragt die Studie nicht explizit. Zumindest der Bildungsstand der Auswanderer sei aber in allen drei Gruppen gleich, so Glöckner. Die nach Deutschland emigrierenden russischen Juden seien in der Regel aber etwas älter.

Wie der Soziologe Ben-Rafael betont, lassen sich die jüdischen Einwanderer aus Russland in keinem Land vorbehaltlos assimilieren. Die russischsprachigen Juden seien zwar am gesellschaftlichen Leben interessiert, würden aber großen Wert auf ihre kulturellen und sprachlichen Wurzeln legen. Auffällig sei, dass sie in den Aufnahmeländern eigene Organisationen und kulturelle Zentren gründen, in Israel auch Schulen und politische Parteien.

Viele von ihnen seien nicht religiös, die meisten aber fühlten sich den jüdischen Traditionen verbunden. „Sie betrachten sich als integralen Bestandteil des Judentums, aber als jüdisch auf ihre Art“, so Ben-Rafael. Vor allem aber fühlten sie sich einer „transnationalen Diaspora“ von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zugehörig. Diese Verbundenheit erstrecke sich über den ganzen Globus, sowohl auf wirtschaftlicher Ebene als auch in Medien werde kooperiert. Sogar ein Weltkongress russisch sprechender Juden wurde unlängst einberufen.

Eliezer Ben-Rafael, Mikhail Lyubansky, Olaf Glöckner, Paul Harris, Yael Israel, Willi Jasper und Julius H. Schoeps: Building a Diaspora, ISBN: 9004153322.

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